Stellungnahme des Rates für Migration und der Sektion Migration, Flucht und Europäisches Grenzregime
Die moralisch und rechtlich inakzeptablen Folgen des Versuchs, die Grenzen der EU durch Abschottung, Abschreckung und Externalisierung vor einer unkontrollierten Zuwanderung von Flüchtlingen zu schützen, werden gegenwärtig an der polnisch-weißrussischen Grenze erneut in dramatischer Weise deutlich. Die Situation der dort gestrandeten Geflüchteten ist inakzeptabel. Sie sind in den Wäldern der Kälte ausgesetzt und gewalttätigen Übergriffen der Sicherheitskräfte und des Militärs beider Länder ausgeliefert. Der einbrechende Winter wird, wenn nicht politisch unverzüglich gehandelt wird, zu einer humanitären Katastrophe führen. Das Vorgehen der polnischen Regierung, Fliehende direkt zurückzutreiben, Grenzen zu schließen und die Möglichkeit zu verweigern, Flüchtlingsschutz in Anspruch zu nehmen, verstößt gegen das Zurückweisungsverbot der Genfer Konvention und des europäischen Flüchtlingsrechts, die Verweigerung von Wasser, Nahrung und Unterkunft und die Unterlassung medizinischer Versorgung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.
Deshalb fordern wir die amtierende und die künftige Bundesregierung dazu auf, unmittelbar und entschieden für die Durchsetzung einer humanen und rechtskonformen Praxis im Umgang mit Flüchtlingen an der polnischen EU-Außengrenze einzutreten.
Dass diese erneute Krise des Flüchtlingsschutzes Folge einer machtpolitischen Instrumentalisierung von Flüchtlingen durch das Lukaschenko-Regime ist, rechtfertigt es nicht, dass internationales und europäisches Recht, insbesondere das Verbot von Zurückweisungen ohne Prüfung eines Asylbegehrens, missachtet und seine Geltung in Frage gestellt wird. Denn dies führt zu einem nicht hinnehmbaren Leiden der Flüchtlinge sowie zu einem weiteren Verlust der Glaubwürdigkeit des Anspruchs der EU, eine den Menschenrechten verpflichtete Wertegemeinschaft zu sein. Auch erneute Befürchtungen über eine vermeintlich drohende massenhafte Zuwanderung, die die Aufnahmekapazitäten der EU überfordert, legitimieren keine Politik, die rechtlose Zustände und das Leiden der Flüchtlinge in Kauf nimmt oder gar als Mittel der Abschreckung instrumentalisiert, wie dies bereits beim Elend in den griechischen Flüchtlingslagern der Fall war.
Auf die Unmöglichkeit, eine am Primat von Kontrolle und Abwehr ausgerichtete Politik mit den Grundsätzen der Menschenrechte und des Flüchtlingsrechts zu vereinbaren, hat der Rat für Migration immer wieder hingewiesen und Vorschläge für eine rationale, auf wissenschaftlichen Befunden basierende und menschenrechtlich ausgerichtete Flüchtlingspolitik unterbreitet. Gefordert wurde dort wiederkehrend die Abkehr von einer sowohl ineffektiven als auch inhumanen Politik, die vor allem auf Abschreckung abzielt, während die deklarierte Zielsetzung der Bekämpfung von Fluchtursachen kaum mehr ist als eine rhetorische Floskel, die nicht in wirkungsmächtige politische Programme und Maßnahmen übersetzt wurde. (https://rat-fuer-migration.de/category/pressemitteilungen/)
In der gegenwärtigen Situation ist eine umgehende Durchsetzung der folgenden Maßnahmen zur fordern:
- Im Sinne einer akuten Nothilfe sollte Polen und Weißrussland angeboten werden, Mittel des zivilgesellschaftlichen Katastrophenschutzes für die Versorgung der Schutzsuchenden im Grenzgebiet bereitzustellen.
- An der Außengrenze der EU sind Möglichkeiten zu schaffen, tatsächlich einen Asylantrag zu stellen und damit einen Anspruch auf menschenrechtliche Standards entsprechende Versorgung und Unterbringung zu erhalten. Um dies zu gewährleisten, sollten die EU und die Bundesregierung Polen umfangreiche finanzielle und personelle Unterstützung bei der Aufnahme und Versorgung der Schutzsuchenden sowie der Durchführung von Asylverfahren anbieten. Dies sollte auch mit einer verlässlichen Zusage der Bundesregierung einhergehen, einen Teil der Geflüchteten aufzunehmen, die über Polen in die EU eingereist sind.
- Weiter ist es dringend politisch darauf hinzuwirken, dass anstelle von Maßnahmen der Grenzsicherung Zugangsmöglichkeiten für die Schutzsuchenden geschaffen werden, die sich gegenwärtig im Grenzgebiet aufhalten. Es ist nicht verantwortbar, dies erst dann zu tun, wenn eine weitere Zuspitzung der Lage im Grenzgebiet dann dazu führt, dass dies als unabweisbar erscheint.
- Es ist darauf hinzuwirken, dass Journalist:innen, Nicht-Regierungs-Organisationen und Wissenschaftler:innen ein freier Zugang zum Grenzgebiet gewährleistet wird, damit die politische Willensbildung in der EU und Deutschland auf einer informierten Grundlage erfolgen kann.
Das bisherige Versagen einer wirksamen Strategie zur Bekämpfung von Fluchtursachen in Verbindung mit Ängsten vor einer unkontrollierbaren Massenzuwanderung können keine Rechtfertigung dafür sein, auf den Versuch zu verzichten, elementaren Grundsätze der Nothilfe und des Flüchtlingsschutzes Geltung zu verschaffen.
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