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RfM-Debatte 2020: Drei Sprachen sind genug fürs Abitur! – Kommentar von Dr. Gabriele Buchholtz

Kommentar zum Beitrag für eine RfM-Debatte 2020

„Drei Sprachen sind genug fürs Abitur! Ein Reformvorschlag für den Abbau der Diskriminierung von mehrsprachig Aufgewachsenen bei Schulabschlüssen“ von Frau Dita Vogel, Universität Bremen

Autorin des Kommentars: Prof. Dr. Gabriele Buchholtz, Universität Hamburg, Professur für „das Recht der sozialen Sicherung mit dem Schwerpunkt in Digitalisierung oder in Migration“, 29.09.2020

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Zum Rechtsanspruch auf Prüfung von Sprachkenntnissen

Einführung in die Debatte

Das Miteinander in unserer „postmigrantischen Gesellschaft“[1] kann nur gelingen, wenn chancengleiche Teilhabe aller Menschen an zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens sichergestellt ist. Unbestritten gehört dazu auch die chancengleiche Teilhabe am Bildungssektor. Bildung ist nicht nur ein „Wert an sich“ und ein Mittel zur Entfaltung der Persönlichkeit, sondern ein „zentraler Mechanismus für die soziale Zuteilung von Lebenschancen“.[2] Die Schule ist die wohl wichtigste Bildungseinrichtung und ein besonders integrationsrelevantes Handlungsfeld, weil die Schulpflicht nicht nur deutsche, sondern qua Völker-, Europa- und Verfassungsrechts „alle“ Kinder im schulpflichtigen Alter erfasst. Aufgrund der Länderzuständigkeit in Bildungsangelegenheiten beginnt die Schulpflicht für Asylsuchende zwar nur in Berlin, Hamburg, dem Saarland und Schleswig-Holstein sofort und im Übrigen erst nach Ablauf bestimmter Wartefristen.[3] Doch trotz dieser Defizite bei der Beschulung von Asylsuchenden ist die Schule – auch schon von Verfassungs wegen – ein „Schauplatz für den gesellschaftlichen und rechtlichen Umgang mit sozialer Vielfalt“.[4] So muss die Schule zugleich ein Ort sein, der zum Umgang mit gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit befähigt. Hier setzt Dita Vogels Vorschlag an.

Die hier angestoßene Debatte um die Einführung eines Rechtsanspruchs auf Prüfung von Sprachkenntnissen liefert wichtige Anregungen, um Defizite im bestehenden Schulsystem auszubessern und eine chancengleiche Teilhabe mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler zu ermöglichen. Hinter dem begrüßenswerten Vorschlag Dita Vogels steht das Ziel, die Herkunftssprachen im schulischen Kontext aufzuwerten, um mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern den Zugang zu höheren Bildungsabschlüssen zu ebnen – ein Ziel, das im gesamtgesellschaftlichen Interesse liegt. Diese Debatte ist nicht nur sozial- und sprachwissenschaftlich zu führen, sondern interdisziplinär. Mein Beitrag nimmt eine juristische Perspektive ein.

Rechtswissenschaftliche Perspektive

Unbestritten ist ein strukturelles Umdenken in vielen gesellschaftlichen Bereichen angezeigt, um der „postmigrantischen“ Realität Rechnung zu tragen und chancengleiche Teilhabe für alle Menschen sicherzustellen. Um diesen Prozess voranzutreiben, sind umfassende Bemühungen im Bereich Staat und Gesellschaft notwendig. Wichtig ist auch die wissenschaftliche Begleitung dieses Prozesses. Wertvoll sind die im Rahmen dieser Debatte beigesteuerten Beiträge aus sozial- und sprachwissenschaftlicher Perspektive. Aufgrund meiner Expertise im öffentlichen Recht möchte ich mich im Folgenden den rechtswissenschaftlichen Dimensionen der Debatte zuwenden. Zunächst möchte ich aufzeigen, welchen völker-, europa- und verfassungsrechtlichen Vorgaben der Staat unterliegt, um das Recht auf chancengleiche Teilhabe an Bildung sicherzustellen. Anschließend werde ich mich der Frage zuwenden, inwiefern das bestehende System des Fremdsprachenunterrichts für mehrsprachige Schülerinnen und Schüler diskriminierend sein kann. In einem letzten Schritt werde ich ein Fazit und Handlungsempfehlungen formulieren.

Dita Vogel hat mit ihren Erläuterungen zur Frage, wann die Kriterien einer „Sprache“ erfüllt sind, wichtige Vorarbeiten für den rechtswissenschaftlichen Diskurs geliefert. Demnach soll sich eine Sprache insbesondere dadurch auszeichnen, dass es Unterrichtswerke, Grammatiken und Wörterbücher gibt oder dass mindestens eine Stelle in Deutschland eine Sprachprüfung anbietet. Diese Kriterien sind transparent und lassen sich für den rechtwissenschaftlichen Diskurs und die nachfolgende Untersuchung fruchtbar machen.

Völker-, europa- und verfassungsrechtliche Grundlagen: Recht auf Bildung

Die hier angestoßene Debatte berührt die grundlegende Frage nach chancengleicher Teilhabe zugewanderter Menschen am deutschen Bildungssystem. Im Folgenden möchte ich die maßgeblichen völker-, europa- und verfassungsrechtlichen Bestimmungen benennen. Das Recht auf Bildung zählt zum Kernbestand der international anerkannten Menschenrechte und ist in zahlreichen völkerrechtlichen Übereinkommen verbürgt. Der Zugang zu Bildungseinrichtungen ist unabhängig von der Staatsangehörigkeit und dem Aufenthaltsstatus zu gewähren. Das folgt etwa aus Art. 13 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR) in Verbindung mit dem Grundsatz der Nicht-Diskriminierung gemäß Art. 2 Abs. 2 IPwskR, wonach Diskriminierungen etwa aufgrund „der Rasse“, „der Hautfarbe“ oder der „nationalen Herkunft“ verboten sind. Vor allem sind die einzelnen Staaten verpflichtet, die gleichberechtige Teilhabe am Unterricht sicherzustellen und entsprechende Bildungsangebote vorzuhalten. Das schließt die Verpflichtung ein, das Erlernen der jeweiligen Landessprache zu fördern, um eine effektive Teilnahme am gemeinsamen Unterricht zu ermöglichen.

Auf europäischer Ebene ist Art. 2 Satz 1 des Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) die wohl prominenteste Vorschrift.[5] Sie gewährt nicht nur ein individuelles Recht auf Bildung, sondern auch eine institutionelle Garantie, die den Staat dazu verpflichtet, ein funktionierendes Bildungssystem zu schaffen und entsprechende Bildungsangebote bereitzuhalten. Besondere Bedeutung kommt der Vorschrift in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu. Demnach sind die in der EMRK anerkannten Rechte und Freiheiten ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten. Direkte oder indirekte Benachteiligungen aufgrund eines der dort genannten Gründe unterliegen besonders strengen Rechtfertigungsanforderungen.[6] Insbesondere, so fordert der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), müsse der jeweilige Staat dafür Sorge tragen, dass den individuellen Bedürfnissen zugewanderter Schülerinnen und Schüler Rechnung getragen werde und eine Integration in den regulären Schulbetrieb stattfinden könne.[7] Zu diesem Zweck müssen die staatlichen Schulbehörden ein Konzept erarbeiten, um Förderbedarf der lernschwachen Kinder zu erkennen und sie auf das gleiche Niveau ihrer Altersgenossen zu bringen.

Ebenso wie Art. 2 Satz 1 ZP gewährt auch Art. 14 Abs. 1 der Europäischen Grundrechtecharta (GRC) ein Teilhaberecht auf einen diskriminierungsfreien Zugang zu (bestehenden) Bildungseinrichtungen. Gemäß Art. 14 Abs. 1 GRC hat jede Person das Recht auf Bildung. Konkretisierungen enthalten Art. 14 der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU (AufnahmeRL) und Art. 27 der Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU (QualifikationsRL) für Asylsuchende. Insbesondere verpflichtet Art. 14 Abs. 2 Satz 2 AufnahmeRL die Mitgliedstaaten, „nach Bedarf“ Vorbereitungskurse, einschließlich Sprachkursen anzubieten, um den Zugang und die Teilnahme am Bildungsangebot „zu erleichtern“.

Dagegen enthält das Grundgesetz – anders als die Landesverfassungen[8] – kein originäres Recht auf Bildung.[9] Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht für den schulischen Bereich ein Recht des Kindes auf Entfaltung „seiner Anlagen und Befähigungen“ aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitet.[10] Im Übrigen dient der in Art. 7 Abs. 1 GG objektiv-rechtlich festgeschriebene staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag, der die inhaltliche und infrastrukturelle Ausgestaltung schulischer Bildung zur staatlichen Aufgabe erhebt, insbesondere der individuellen Persönlichkeitsentfaltung des Kindes im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG. Somit ist zu Recht von verfassungsrechtlichen „Elementen“ eines „Rechts auf Bildung“ die Rede. Insbesondere enthält der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag ein Recht auf chancengleichen Zugang zur Pflichtschule.[11] Es ist das Ziel, so formuliert das Bundesverfassungsgericht, „ein Schulsystem zu gewährleisten, das allen jungen Bürgern gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet.“[12] Dieses Recht auf chancengleichen Zugang zu staatlichen Bildungseinrichtungen enthält auch einen Anspruch auf effektive Förderung beim Erwerb der deutschen Sprache.[13] Dieser Anspruch deckt sich mit den Vorgaben aus Art. 2 Satz 1 ZK EMRK. Eine effektive Bildung ist nur gewährleistet, wenn zugewanderte Kinder eine angemessene Sprachförderung erhalten. Andernfalls ist eine Verletzung des Teilhaberechts aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 GG bzw. des Gleichbehandlungsgrundsatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG anzunehmen.

Die Untersuchung der völker-, europa- und verfassungsrechtlichen Grundlagen zum Recht auf Bildung macht deutlich, dass die Staaten dafür Sorge zu tragen haben, dass chancengleiche Teilhabe aller Schülerinnen und Schüler am Schulsystem sichergestellt wird. Um chancengleiche Teilhabe zu ermöglichen, haben die Staaten geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Damit stehen die staatlichen Schulen insbesondere in der Pflicht, das Erlenen der jeweiligen Landessprache zu fördern, weil diese Kompetenz als notwendige Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe erachtet wird. Bei der Wahl der jeweiligen Maßnahmen haben die zuständigen Stellen jedoch weitgehende Handlungs- und Gestaltungsfreiheit. In der Bundesrepublik Deutschland ist Bildung einschließlich des Schulwesens gemäß Art. 30, 70 GG Ländersache. Auf dieser Grundlage haben die Bundesländer in den Landesschulgesetzen entsprechende Regelungen getroffen.

Diskriminierungsrisiken im Schulsystem – insbesondere im Fremdsprachenunterricht

Sicherlich ist der Fremdsprachunterricht im deutschen Schulsystem mit Blick auf das völker-, europa- und verfassungsrechtlich verankerte Ziel chancengleicher Bildungsteilhabe defizitär und wird der „postmigrantischen“ Realität nicht umfassend gerecht. Insbesondere blendet das etablierte System des Fremdsprachenunterrichts aus, dass Deutschland eine mehrsprachige Gesellschaft ist. Wie Dita Vogel zu Recht beklagt, kommt es beim Nachweis von Sprachkenntnissen nicht auf die tatsächlichen Sprachkenntnisse an, sondern auf den Besuch des Fremdsprachenunterrichts. Weitgehend ausgeklammert sind die Herkunftssprachen. Damit bleiben wichtige „Ressourcen“ im Schulsystem ungenutzt, worauf Yazgül Şimşek in ihrem Kommentar treffend hinweist. Ob darin auch eine Diskriminierung mehrsprachig aufgewachsener Schülerinnen und Schüler liegt, wie Dita Vogel konstatiert, bedarf einer näheren Untersuchung.

Ausgangspunkt der Frage, ob eine Diskriminierung vorliegt, ist Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes. Demnach darf niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Entsprechende Vorschriften finden sich auch auf völker- und europarechtlicher Ebene. Der Fokus der nachfolgenden Untersuchung soll auf Art. 3 Abs. 3 GG liegen.

Es gilt also der Frage nachzugehen, ob mehrsprachig aufgewachsene Kinder und Jugendliche im vorherrschenden System des Fremdsprachenunterrichts eine benachteiligende Behandlung aufgrund eines der in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmale erfahren. Festzustellen ist zunächst, dass der Fremdsprachenunterricht nach den einzelnen Landesschulgesetzen nicht explizit an eines der in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmale anknüpft. Die Regelungen gelten ausnahmslos für alle Schülerinnen und Schüler, ungeachtet der in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmale. Eine direkte Diskriminierung scheidet demnach aus.

Allerdings kommt eine mittelbare Diskriminierung – das Bundesverfassungsgericht hat diese Rechtsfigur anerkannt[14] – in Betracht, sofern die Fremdsprachenregelungen Merkmalsträgerinnen und Merkmalsträger überproportional häufig benachteiligen. Hier ließe sich nun anführen, dass insbesondere Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund von den bestehenden Regelungen benachteiligt werden, weil ihnen eine zusätzliche Pflicht auferlegt wird. Diese zusätzliche Pflicht besteht darin, neben einer ersten und zweiten Fremdsprache auch „Deutsch“ zu erlernen. Diese „Zusatzbelastung“ trifft alle Schülerinnen und Schüler, die die deutsche Sprache (noch) nicht ausreichend beherrschen, also in der Regel Menschen mit Migrationshintergrund. Damit sind hier insbesondere das – zu Recht umstrittene – Diskriminierungsmerkmal „Rasse“ und das Diskriminierungsmerkmal „Sprache“ nach Art. 3 Abs. 3 GG einschlägig. Nun fragt sich weiterhin, ob darin auch eine „Benachteiligung“ im Sinne des Art. 3 Abs. 3 GG zu sehen ist. Zu klären ist insbesondere, ob die Pflicht zum Erlernen zweier Fremdsprachen – so behauptet Dita Vogel – zugewanderte Kinder tatsächlich daran hindert, sich „auf Deutsch und Mathematik zu konzentrieren“ und bessere Schulabschlüsse zu erreichen. Das jedenfalls bezweifelt Yazgül Şimşek in ihrem Kommentar. Eine pauschale Antwort auf diese Frage kann es wohl nicht geben, da die Intensität der „Zusatzbelastung“ entscheidend von den individuellen Voraussetzungen und der Bildungsbiografie der Schülerinnen und Schüler abhängt. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass die „Zusatzbelastung“ bei mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern vor allem daraus resultiert, dass „Deutsch“ die allgemeine Unterrichtssprache ist. Dass dies grundsätzlich so bleiben soll, wird aber – soweit ersichtlich – nicht ernsthaft bezweifelt. Unbestritten ist das Erlernen der deutschen Sprache eine wichtige Voraussetzung, um am sozialen und wirtschaftlichen Leben teilzuhaben. Insbesondere um auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen, ist das Beherrschen der deutschen Sprache wichtig. So weisen auch die völker- und europarechtlichen Verpflichtungen explizit auf die Bedeutung der Landessprache hin und verpflichten die staatlichen Schulbehörden, entsprechende Förderung bereitzustellen. Wenn wir grundsätzlich daran festhalten wollen, dass Deutsch die Unterrichtssprache ist, dann bleibt es dabei, dass Schülerinnen und Schüler die deutsche Sprache erlernen müssen. Die damit einhergehende Belastung als „Benachteiligung“ im Sinne des Art. 3 Abs. 3 GG zu sehen, fällt schwer.[15] Sofern hierin trotzdem eine mittelbare Diskriminierung gesehen wird, wäre an eine sachliche Rechtfertigung zu denken. Unabhängig von der dogmatischen Verankerung der mittelbaren Diskriminierung in Art. 3 Abs. 1 oder Abs. 3 GG ließe sich jedenfalls argumentieren, dass die Landessprache „Deutsch“ als Unterrichtssprache der Funktionsfähigkeit des Schulbetriebs dient und eine wichtige Voraussetzung für die spätere Integration in den Arbeitsmarkt ist.

Die kursorische Untersuchung ergibt damit folgendes Bild: Pauschal lässt sich nicht feststellen, dass das bestehende System des Fremdsprachenunterrichts (mittelbar) diskriminierend i.S.d Art. 3 Abs. 3 GG ist. Gleichwohl ist das System des Fremdsprachenunterrichts anfällig für Diskriminierungen gegenüber Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund. Diskriminierungsrisiken stellen sich ein, wenn diese Schülerinnen und Schüler (strukturell) „abgehängt“ werden und eine chancengleiche Teilhabe am Schulsystem nicht mehr gewährleistet ist. Zu Recht weisen Till Woerfel, Almut Küppers und Christoph Schroeder in ihrem Beitrag darauf hin, dass Chancenungleichheit, die häufig (aber nicht zwangsläufig) mit Mehrsprachigkeit einhergehe, im bestehenden Schulsystem verstärkt, aber bislang nicht hinreichend abgebaut werde. Insbesondere muss die Schule Möglichkeiten schaffen, damit Schülerinnen und Schülern sprachbedingte Nachteile im Schulsystem aufholen können – nicht nur theoretisch, sondern praktisch. Insofern ist eine effiziente Förderung zu etablieren. Das ergibt sich – wie bereits gesehen – auch aus den völker-, europa- und verfassungsrechtlichen Vorgaben. Im Übrigen gilt es, bestehende Strukturen und Praktiken fortlaufend auf Diskriminierungsrisiken zu untersuchen. Aktuell ist die Rassismusanfälligkeit der Polizei in den Fokus öffentlicher Debatten gerückt. Ehrlicherweise müssen sich alle staatlichen Einrichtungen einer solchen kritischen Prüfung unterziehen, auch die Schulen. Dahinter steht das Ziel, den „Ort“ Schule tauglich für die postmigrantische Realität zu machen und chancengleiche Teilhabe für alle zu ermöglichen.

Fazit und Handlungsempfehlungen

Dita Vogel ist zuzustimmen, denn Nachbesserungsbedarf besteht! Es fragt sich nun, welche Schritte notwendig sind, um den Schulunterricht im Allgemeinen und den Fremdsprachenunterricht im Besonderen so zu gestalten, dass chancengleiche Teilhabe aller Schülerinnen und Schüler sichergestellt ist. Aus juristischer Sicht ist insbesondere auf die verfassungs-, europa- und völkerrechtlichen Vorgaben zur Teilhabe am Bildungssystem zu verweisen, wonach das Bildungsangebot auf die individuellen Fähigkeiten und Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler zuzuschneiden ist, um Chancengleichheit realiter sicherzustellen. Plausibel sind insofern die ihm Rahmen dieser Debatte vorgebrachten Vorschläge, die Mehrsprachenpotenziale zu fördern, insbesondere durch ein Aufbrechen der Hierarchisierung zwischen Fremd- und Herkunftssprache. Das muss, so denke ich, nicht zwingend mit einer Abschaffung der zweiten Fremdsprache einhergehen. Sinnvoll erscheint mir dagegen ein „Optionsmodell“, d.h. es muss den Schülerinnen und Schülern die Entscheidung überlassen bleiben, ob sie eine Sprachprüfung in einer weiteren Fremd- oder ihrer Herkunftssprache ablegen wollen. So ließe sich – gemäß Dita Vogel – eine Gleichstellung aller Sprachen erreichen. Flankierend ist sicherlich auch ein sprachenübergreifender Unterricht sinnvoll, um ein Bewusstsein für die Mehrsprachigkeit unserer Gesellschaft zu schaffen.

Dita Vogel plädiert des Weiteren für die Einführung eines Rechtsanspruchs auf Prüfung von Sprachkenntnissen in der jeweiligen Herkunftssprache. Das ist aus vielerlei Gründen richtig und wichtig. Für die Schülerschaft hätte die Einführung eines Rechtsanspruchs den Vorteil der Rechtssicherheit und Einklagbarkeit. Und nicht zuletzt hat die Einführung eines Rechtsanspruchs eine gesamtgesellschaftliche „Signalwirkung“ und kann einen Beitrag zum besseren Umgang mit gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit liefern, wie Yazgül Şimşek zu Recht feststellt. Zuständig sind insoweit die Landesgesetzgeber. Entsprechende Regelungen sind in den Landesschulgesetzen aufzunehmen. Als Beispiel für die aktuell bestehende Rechtslage kann hier § 20 Abs. 3 des Bremischen Schulgesetzes dienen. Dort heißt es: „Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe I des Gymnasiums müssen mindestens zwei Fremdsprachen erlernen.“ Um ein „Optionsmodell“ im Sinne Dita Vogels ins Gesetz aufzunehmen, böten sich folgende Ergänzungen an: „Schülerinnen und Schüler, deren Herkunftssprache nicht Deutsch ist, können auf Verlangen Sprachunterricht in ihrer Herkunftssprache erhalten. Die Teilnahme an diesem Unterricht ersetzt die Pflicht zum Erlernen einer zweiten Fremdsprache.“

Abschließend bleibt festzuhalten, dass Bemühungen um chancengleiche Teilhabe am Bildungssystem nicht auf den Bereich des Fremdsprachenunterrichts beschränkt bleiben dürfen. Zahlreiche Handlungsebenen und Akteure sind gefragt. So muss bereits das Lehramtsstudium auf den Umgang mit Mehrsprachigkeit in unserer „postmigrantischen Gesellschaft“ vorbereiten. Nicht zuletzt bedarf es einer fortwährenden kritischen Prüfung bestehender Strukturen, um Diskriminierungsrisiken frühzeitig zu erkennen und entgegenzuwirken. Diese Debatte zeigt, dass es an Bemühungen nicht fehlt. Das macht Mut! Nun geht es an die Umsetzung!

 

Literatur

[1] Eingehend dazu N. Foroutan, Die postmigrantische Gesellschaft – Ein Versprechen der pluralen Demokratie, 2019.

[2] S. Hillmert, Bildung und sozialer Aufstieg, in: Herausforderungen des Sozialstaats im sozialen Wandel, Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte und Wirtschaft 75–2018, S. 52.

[3] Bericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte, online: https://landkarte-kinderrechte.de/downloads/Infos-Bundeslaender-Schule-2019.pdf.

[4] F. Wapler, Gleichheit angesichts von Vielfalt als Gegenstand des philosophischen und des juristischen Diskurses, VVDStRL 78 (2019), 53, 79.

[5] Bspw. BVerfG v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04, NJW 2004, 3407 (3407 ff.).

[6] EGMR, Urt. v. 05.09.2007 – 32526/05, Sampanis u.a./Griechenland, insb. Rn. 68.

[7] EGMR, Urt. v. 13.11.2007 – 57325/00, D.H. u.a./Tschechische Republik, Rn. 207.

[8] Vgl. Art. 11 Abs. 1 Verf. Baden-Württemberg; Art. 128 Abs. 1 Verf. Bayern; Art. 20 Abs. 1 Verf. Berlin; Art. 29 Abs. 1 Verf. Brandenburg; Art. 27 Abs. 1 Verf. Bremen; Art. 8 Abs. 1 Verf. Nordrhein-Westfalen; Art. 4 Abs. 1 Verf. Niedersachsen; Art. 29 Verf. Sachsen; Art. 25 Abs. 1 Verf. Sachsen-Anhalt; Art. 24a Verf. Saarland; Art. 6a Abs. 3 Verf. Schleswig-Holstein; Art. 20 Abs. 1 Verf. Thüringen.

[9] M. Jestaedt, Schule und außerschulische Erziehung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Band VII, 3. Aufl. 2009, § 156 Rn. 92.

[10] BVerfGE 45, 400 (417); 58, 257 (272).

[11] C. Langenfeld, Integration und kulturelle Identität zugewanderter Minderheiten – eine Untersuchung am Beispiel des allgemeinbildenden Schulwesens in der Bundesrepublik Deutschland, 2001, S. 223 f.

[12] BVerfGE 26, 228 (238); 34, 165 (182).

[13] BVerfGE 125, 175 (246) – Hartz IV; BVerfGE 132, 134 (162, 173).

[14] Das Bundesverfassungsgericht hatte sich bisher nur mit einer mittelbaren Geschlechterdiskriminierung zu befassen: BVerfGE 121, 241.

[15] So heißt es bei W. Heun in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 130: „Die Festlegung des Deutschen als Gerichts- und Schulsprache verletzt Art. 3 Abs. 3 GG nicht.“

 

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