„Drei Sprachen sind genug fürs Abitur!“ – Ein Reformvorschlag für den Abbau der Diskriminierung von mehrsprachig Aufgewachsenen bei Schulabschlüssen
Abschluss der RfM-Debatten 2020 von der Initiatorin Dr. Dita Vogel, Mitglied im Rat für Migration e.V., 18.12.2020
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Die Zeit ist reif für eine Reform des Sprachenlernens
„Drei Sprachen sind genug fürs Abitur!“ So lautet der Titel meines Initialbeitrages für die RFM-Debatte 2020. Skizziert wird ein Reformvorschlag für den Abbau der Diskriminierung mehrsprachig Aufgewachsener bei Schulabschlüssen, den ich im Rahmen des Projekts Transnationale Mobilität in Schulen (TraMiS) nach intensiver Diskussion mit Kolleg*innen im Arbeitsbereich Interkulturelle Bildung an der Universität Bremen ausgearbeitet habe.
Zu dem Vorschlag sind sechs Kommentare eingegangen, die wie der Initialbeitrag auf der Website der RFM-Debatte veröffentlicht wurden. Die Kommentare setzen sich aus der Sicht unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen und gewerkschaftlicher Praxis mit den Vorschlägen des Initialbeitrags auseinander und betten ihn die die Fachdiskussion ein. Der Tenor aller Kommentare ist ausnahmslos positiv – so wird der Beitrag als „höchst begrüßenswerter Vorstoß“ (Kommentar Yazgül Şimşek), „eine dringend notwendige, rassismuskritische Intervention“ (Kommentar Katrin Huxel), eine starke politische Forderung, „die dem neuesten Stand aktueller erziehungswissenschaftlicher Debatten entspricht“ (Kommentar Galina Putjata), ein „begrüßenswerter Vorschlag“ (Kommentar Gabriele Buchholtz), den die Kommentierenden „unterstützen“ (Kommentar Till Worfel, Almut Küppers, Christoph Schroeder) sowie aus gewerkschaftlicher Sicht als „zukunftsweisend für Bildung in der Migrationsgesellschaft – und überfällig“ (Kommentar Elina Stock) bezeichnet.
Diese insgesamt positive Aufnahme zeigt, dass die Zeit reif ist für eine Reform des Sprachenlernens in der deutschen Schule. Die durch das Schulrecht gesetzte Aufspaltung der Sprachen in wenige schulisch vermittelte „Fremdsprachen“ und viele „Herkunftssprachen“, die bestenfalls eine „marginale Wahloption“ darstellen (Woerfel, Küppers, und Schroeder), ist für eine Gesellschaft nicht mehr zeitgemäß, in der ein großer Teil der Kinder von Anfang an mit mehr als einer Sprache aufwächst. In den Großstädten des Westens betrifft dies sogar die Mehrheit.
Im Folgenden gehe ich schwerpunktmäßig auf einige Aspekte ein, die ich besonders bemerkenswert fand oder bei denen ich eine Einschätzung der Kommentierenden nicht teile.
Diagnose: Ist die Pflicht zum Erlernen einer vierten Sprache als „zweite Fremdsprache“ eine Hürde auf dem Weg zum Abitur?
Woerfel, Küppers und Schroeder teilen uneingeschränkt meine Einschätzung, dass die Regelungen zur zweiten Fremdsprache „nicht selten eine unüberwindbare Bildungsbarriere auf dem Weg zum höchsten Bildungsabschluss“ darstellen. Şimşek verweist dagegen auf fehlende quantitativ-empirische Belege und bezweifelt diese Einschätzung. Mich überzeugt der Einwand nicht, weil das Erlernen einer zusätzlichen Sprache Zeit und Anstrengungen erfordert. Zusätzlicher Aufwand ist sicher kein unüberwindbares Hindernis, aber eine Hürde, so dass ich davon ausgehe, dass quantitative Untersuchungen einen negativen Effekt nachweisen würden.
Diskriminierung durch Pflicht zum Erlernen einer vierten Sprache für das Abitur
Die Kommentare möchte ich auch zum Anlass nehmen noch einmal klar zu benennen, worin m.E. die Diskriminierung besteht: Jugendliche, die bereits drei Sprachen auf dem von den Kultusminister*innen geforderten Niveau beherrschen, dürfen nur dann Abitur machen, wenn sie in der Schule eine weitere Sprache belegt haben. Die diskriminierende Zusatzbelastung entsteht durch den Zwang zum Erlernen einer weiteren Sprache. Die rechtswissenschaftliche Analyse von Buchholtz argumentiert, dass es sich im rechtlichen Sinne nicht um direkte Diskriminierung handelt, da die Fremdsprachenregelungen für alle Schüler*innen gelten. Eine „mittelbare Diskriminierung“ komme in Frage, sofern die Fremdsprachenregelungen überproportional häufig Schüler*innen mit Migrationshintergrund benachteiligen. Allerdings besteht die benachteiligende Zusatzbelastung nicht im Erlernen der deutschen Sprache, wie Buchholtz im Kommentar anmerkt, sondern im Zwang zum Erlernen einer zusätzlichen Sprache, obwohl schon drei Sprachen beherrscht werden.
Mitglieder von Schulleitungen haben uns im Rahmen des Forschungsprojekts TraMiS darauf hingewiesen, dass der direkte Weg zum Abitur nicht für jeden das Richtige sein muss. In berufsbildenden Schulen werden genauso wertvolle alternative Wege zu einer qualifizierten Berufsausbildung und einer erfüllenden Berufstätigkeit angeboten, die u.U. auch ein späteres Studium ermöglichen. Dem stimme ich zu, aber dieser Weg sollte nicht nur deshalb eingeschlagen werden, weil dadurch das Erlernen einer zusätzlichen Sprache vermieden werden kann.
In den Kommentaren von Putjata sowie Woerfel, Küppers und Schroeder wird darauf hingewiesen, dass es bereits Schritte in die richtige Richtung gibt: So werden an einigen Orten inzwischen einzelne häufig gesprochene Familiensprachen wie Türkisch als zweite Fremdsprache angeboten. In Nordrhein-Westfalen gibt es die Möglichkeit zur Anerkennung des Herkunftssprachenunterrichts als „zweite Fremdsprache“. Schulen mit bi- und multilingualen Angeboten bieten an einigen Orten Alternativen. Diese Hinweise zeigen, dass der Vorschlag mehr ist als nur ein abgehobenes theoretisches Gedankenspiel. Die Möglichkeit, die eigene Familiensprache in das Abitur einzubringen, besteht bereits – steht aber nur einem kleinen Teil der mehrsprachig Aufwachsenden an wenigen Standorten offen. Vor diesem Hintergrund wird umso deutlicher, dass die Mehrheit der mehrsprachig aufwachsenden Schüler*innen eine sachlich nicht gerechtfertigte Hürde beim direkten Zugang zum Abitur zu überwinden haben.
Im Initialbeitrag wird darum vorgeschlagen, einen Rechtsanspruch auf Sprachenprüfungen in allen anerkannten Sprachen sowie auf einen darauf vorbereitenden Unterricht einzuführen. Die Mehrzahl der Kommentare beschäftigt sich mit der weiteren Gestaltung des Unterrichts und stellt Alternativ- und Erweiterungsideen vor. Bevor ich auf die Frage der Veränderung des Unterrichts eingehe, möchte ich zunächst aber die Idee des Rechtsanspruchs auf Sprachenprüfungen behandeln, die für mich den Kern des Vorschlags ausmacht.
Rechtsanspruch auf Sprachenprüfungen
Interessanterweise führt keiner der Kommentare ein Gegenargument gegen einen Rechtsanspruch auf Prüfung in anerkannten Sprachen an oder bezweifelt die Sinnhaftigkeit einer solchen Regelung. Im Gegenteil – einer solchen Regelung werden z.T. weit über das unmittelbare Feld hinausgehende positive Wirkungen zugeschrieben z.B. als Signalwirkung zur Veränderung von Sprachenhierarchien in der Gesellschaft (Woerfel, Küppers und Schroeder). In ihrem rechtswissenschaftlichen Kommentar weist Buchholtz auf die verfassungs-, europa- und völkerrechtlichen Vorgaben zur chancengleichen Teilhabe am Bildungssystem hin. Danach ist das Bildungsangebot auf die individuellen Fähigkeiten und Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler zuzuschneiden, um Chancengleichheit sicherzustellen.
Prüfungen in Herkunftssprachen sind nichts grundsätzlich Neues. Bereits aktuell gibt es in allen Bundesländern die Möglichkeit, dass ein Teil der Schüler*innen, die als Jugendliche nach Deutschland gekommen sind, ohne vorbereitenden Unterricht in einer einmaligen Prüfung Kenntnisse einer Herkunftssprache nachweisen können. Je nach Bundesland sind die Zugangshürden unterschiedlich hoch. Es besteht aber kein Rechtsanspruch darauf. Der Kern des Reformvorschlags besteht daher zuerst einmal darin, einen Rechtsanspruch auf solche Prüfungen zu schaffen, so dass der Vorteil der Rechtssicherheit und Einklagbarkeit entsteht (Buchholtz). Dieser Rechtsanspruch sollte außerdem weit gefasst und nicht nur auf im Jugendalter Zugewanderte beschränkt sein, sondern von allen Schülerinnen und Schüler in Anspruch genommen werden können und auf alle Sprachen ausgeweitet werden. Für eine rechtliche Regelung muss dann festgelegt werden, was eine prüfbare Sprache ist. Dafür hat der Initialbeitrag „wichtige Vorarbeiten für den rechtswissenschaftlichen Diskurs geliefert“ (Buchholtz).
Die Bildungsbehörden würden dazu verpflichtet, bei rechtzeitiger Anmeldung eine Prüfung zu organisieren und Prüfungspersonal bereitzustellen. Ob das tatsächlich möglich ist, wurde zwar nicht in den Kommentaren, aber in einer Diskussion mit Praktiker*innen einer Bildungsbehörde bezweifelt. Zweifellos müssten Auswahl- und Schulungsverfahren geändert werden – aber es dürfte m.E. kein Zweifel daran bestehen, dass es bei entsprechendem politischen Willen und bei angemessener Bezahlung der Prüfungstätigkeiten möglich ist, Personen zu finden, die von ihrer Ausbildung her in der Lage, eine Prüfung auf B1 Niveau abzunehmen. Dabei geht es u.a. darum zu prüfen, ob jemand sowohl mündlich und schriftlich bei vertrauten Themen das Wichtigste versteht, wenn eine klare Standardsprache verwendet wird, und ob sich jemand über persönliche Interessensgebiete äußern kann. Ich bin davon überzeugt, dass wir das Angebot an potentiellen Prüfer*innen in Deutschland unterschätzen, die z.B. als zugewanderte Lehrkräfte die Qualifikation für eine solche Prüfung mitbringen oder mit geeigneter Schulung in kurzer Zeit nachweisen können. Putjata verweist auf Beispiele aus Schweden und Israel, in denen zugewanderte Pädagog*innen und Akademiker*innen zügig für neue Tätigkeiten in Schulen qualifiziert werden konnten.
Zumindest aus der Sicht derjenigen, die diesen Vorschlag eines Rechtsanspruches auf Prüfung im Rahmen der Debatte im Rat für Migration kommentiert haben, spricht nichts dagegen, diesen Vorschlag an die Kultusministerien heranzutragen, damit sie ihn aus bildungspolitischer und –administrativer Sicht prüfen können.
Mehrsprachenunterricht
Deutlich kritischer wird die Frage gesehen, ob ein binnendifferenzierter und digital gestützter Mehrsprachenunterricht tatsächlich die derzeit beste Lösung darstellt, um Unterricht in nicht-deutschen Familiensprachen zu verbessern und auf die vorgeschlagene Sprachenprüfung vorzubereiten. Die Kommentierenden verweisen auf weitere Möglichkeiten, die in der Fachdiskussion vorgeschlagen werden, u.a.
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- die Herkunftssprachen zum problemlösenden Lernen in der Schule zu nutzen und einen sprachenreflektierenden Fokuskurs zusätzlich zum Fremdsprachenlernen einzuführen (Şimşek),
- den Mehrsprachenunterricht als vernetzten Gesamtsprachenunterricht gezielt zum Ausbau eines Gesamtsprachenrepertoires und Translanguaging zu nutzen (Huxel),
- mehr Sprachenangebote für die „zweite Fremdsprache“ zu schaffen, z.B. über die Kooperation mit außerschulischen Anbieter*innen (Woerfel, Küppers und Schroeder),
- den Herkunftssprachenunterricht qualitativ zu verbessern und mit dem Fremdsprachenunterricht gleichzustellen (Stock), sowie
- Distanzlernangebote vor allem für kleine Sprachen einzuführen, wobei anders als im vorgeschlagenen Modell auch bilinguale Unterstützungspersonen den Distanzunterricht vor Ort begleiten könnten (Woerfel, Küppers und Schroeder).
Es gibt also viele Ideen und mehrere Wege, um sowohl den Einsatz aller sprachlichen Fähigkeiten in der Schule zu fördern als auch das Sprachenlernen in den Schulen erweiternd zu reformieren. Diese können weiter ausformuliert und geprüft werden. Darunter wäre ein Modellprojekt zum digital gestützten Mehrsprachenunterricht z.B. in der Einführungsphase der Oberstufe ein relativ einfach zu realisierendes Vorhaben, das den Schüler*innen der Pilotschulen zusätzliche Chancen bieten und zugleich Informationen zur Sprachenförderung in größerem Stil liefern könnte.
Lehrkräfteausbildung
Eine Voraussetzung für die Realisierung der oben aufgeführten Vorschläge in größerem Stil ist die Qualifizierung von Personal. Putjatas Überlegungen zu Anpassungsqualifikationen für zugewanderte Lehrkräfte betrachte ich als kreatives Weiterdenken des Initialbeitrags:
„Von großem Wert“ – so schreibt sie – „wäre eine qualifizierte und zugleich zeitlich überschaubare Weiterbildung für Lehrkräfte, welche gezielt und zugleich ressourcenorientiert auf die bestehenden fachlichen und pädagogischen Kompetenzen der Teilnehmenden aufbaut. Sinnvoll wäre es, das bereits studierte Fach der Teilnehmenden anzuerkennen (z. B. Mathematik oder Biologie als 1. Fach) und als zweites Fach das Studium der Herkunftssprache sowie deren Vermittlung zu ermöglichen.“
Fazit
Vor Kurzem erreichte mich die Mitteilung, dass sich das „Fremdsprachenzentrum“ der Hochschulen im Land Bremen in „Sprachenzentrum“ umbenannt hat. Die Mitteilung des Sprachenzentrums vom 12. November 2020 erklärt: „So steht für uns am Sprachenzentrum nicht mehr das Fremde, das Trennende beim Lernen von Sprachen im Vordergrund, sondern wir nehmen das Verbindende von Sprachen, ihren Beitrag zur Verständigung und zum gegenseitigen Verständnis in den Fokus.“
Diese Umbenennung ist Ausdruck und Beispiel dafür, dass die im Schulrecht geschaffene Unterscheidung zwischen Fremd- und Herkunftssprachen in verschiedenen Kontexten überdacht wird.
Ein Rechtsanspruch auf Sprachenprüfungen würde auf die schulische Gleichstellung von Sprachen hinwirken. Die Kommentierenden teilen die im Initialbeitrag vertretene Auffassung, dass ein solcher Rechtsanspruch wünschenswert, zeitgemäß und machbar ist. Er sollte deshalb an die fachlich und politisch zuständigen Stellen herangetragen werden. Der Umfang und die Qualität der Auswirkungen auf Schulabschlüsse könnten und sollten möglichst bald in Pilotprojekten empirisch untersucht werden.
Die Ausweitung des Fremdsprachenunterrichts, die Aufwertung des Herkunftssprachenunterrichts und neue Formen eines Sprachenunterrichts, in dem die schulrechtliche Unterscheidung von Sprachen keine Rolle mehr spielt, sind sinnvolle Maßnahmen, um Sprachenlernen an Schulen chancengleicher gestaltet. Die Ausweitung und Verbesserung etablierter Formen kann zeitgleich mit der wissenschaftlich begleiteten Erprobung neuer Formen in Modellprojekten geschehen.