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Anstelle des Migrationshintergrundes Eingewanderte erfassen und für das rassistische Diskriminierungsrisiko Selbstbezeichnungen und selbstwahrgenommene Fremdzuschreibung

Replik von Dr. Anne-Kathrin Will (Humboldt-Universität zu Berlin)

Zum Abschluss der RfM-Debatte 2022 möchte ich auf die Kommentare zu meinem Initialbeitrag „Anstelle des Migrationshintergrundes: Eingewanderte erfassen“ antworten. Zunächst danke ich den Verfasser:innen der insgesamt zehn fundierten kritischen, konstruktiven und weiterführenden Kommentare.[1] Die zahlreichen Beiträge verdeutlichen die Vielschichtigkeit einer statistischen Erfassung migrationsbezogener Daten und geben zugleich wertvolle Hinweise für die Weiterentwicklung.

Erwartbar gab es sowohl Stimmen gegen wie auch für eine weitere Verwendung der Kategorie Migrationshintergrund. Statistiken können ein machtvolles Werkzeug zur quantifizierenden Abbildung von Ungleichheiten sein und die Grundlage für staatliche Entscheidungen und Handeln bilden (Kommentar Liebscher). Die Verfügbarkeit von Statistiken an sich garantiert aber nicht, dass öffentliche Stellen auf soziale Probleme auch tatsächlich angemessen reagieren. Dennoch müssen gesellschaftliche Schieflagen wie Rassismus, soziale Disparitäten oder Geschlechterungleichheit überhaupt erstmal statistisch abgebildet werden, damit sie politisch bearbeitet werden. Bei der statistischen Abbildung dieser Benachteiligungen müssen ethische Gesichtspunkte berücksichtigt werden (Kommentare Hendl/James, Liebscher, Supik).

Migrationshintergrund verschleiert Rassismus

Zurecht wurde darauf hingewiesen, dass mit der Kategorie „Migrationshintergrund“ statistische Artefakte, also künstliche „Gruppen“ geschaffen werden, die dann in Form einer „ontologischen Dichotomie“ (Kommentar Yildiz) miteinander verglichen werden. Migrationshintergrund bildet keinesfalls den „Goldstandard“ um die Auswirkungen von Rassifizierungen abzubilden (Kommentar Ateş), sondern ist schlichtweg ungeeignet (Kommentare Supik, Yildiz). Da hilft auch der Hinweis nicht, dass die Kategorie Migrationshintergrund nicht für die Abbildung von Rassismus entwickelt wurde (Kommentare Canan/Petschel, Worbs). Eine weitere Verwendung der Kategorie Migrationshintergrund ist nur solange hinnehmbar, wie es keine bessere Abbildung rassistischer Diskriminierung gibt (Kommentar Liebscher). An dieser besseren Abbildung muss umgehend und intensiv gearbeitet werden. Eine Umbenennung der Kategorie Migrationshintergrund allein wird nichts ändern und nur zu weiterer Verwirrung führen. Zur Sichtbarmachung von Ungleichheiten, die dann politisches Handeln nach sich ziehen sollen, ist die Kategorie Migrationshintergrund ungeeignet und hat exkludierende Nebeneffekte. Insbesondere die Lebensrealitäten Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen werden nur fehlerhaft oder gar nicht abgebildet (Aikins u. a. 2021, 56f.).

Die Kategorie Migrationshintergrund verschleiert durch ihre scheinbare Objektivität Rassismus und verschiebt die Aufmerksamkeit auf Migration. Im deutschen Kontext wird Migrationshintergrund als Proxy für „race“ verwendet (Kommentar Ateş) und ist damit Treiber einer Dauerthematisierung und -exotisierung von Migration. „Migrationshintergrund“ ist zu einer Bezeichnung geworden, mit der rassistische Zuschreibungen derzeit hauptsächlich normalisiert werden. Chripa Schneller (2022) hat die Dynamiken von Migrationshintergrund als Race-Kategorie beschrieben und die Handlungsmöglichkeiten der Subjekte aufgezeigt, die „mit Migrationshintergrund“ adressiert werden. Migrationshintergrund ist nicht gleich Migrationshintergrund. Mal ist er sehr präsent. Mal kann er im Sinne dessen, was Erving Goffman (1992[1967]) als nicht sichtbares Stigma bezeichnete, gezeigt oder verborgen werden. Er prägt den Horizont und Alltag der Menschen, denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, steht für Exklusionserfahrungen und ist ein Faktor der Stigmatisierung, die sie zu bewältigen haben. Damit produziert die Kategorie Migrationshintergrund rassistische Ausschlüsse und Diskriminierung (Schneller 2022). Um diese Dynamik nicht zu verstärken und die Verknüpfung von „Migration“ mit „race“ aufzulösen, sollte Migrationshintergrund nicht mehr erhoben werden, sondern nur noch, ob Menschen eingewandert sind.

Nur Einwanderung erfassen

Dagegen macht der Vorschlag, nur das biografische Ereignis der Einwanderung zu erfassen, Statistiken einfacher und perspektivisch vergleichbarer. Denn Einwanderung lässt sich deutlich einfacher und vollständiger erheben als Informationen über die Eltern, wo neben dem nötigen Wissen auch eine Entscheidung zugunsten von zwei Elternteilen fallen muss. Die Praxis der Erfassung des Migrationshintergrunds wird auch der Situation von Patchworkfamilien und sogenannten Alleinerziehenden, die es in Deutschland in großer Zahl gibt, nicht gerecht.

Selbstverständlich werden mit der Kategorie „Eingewanderte“ auch weiterhin Menschen mit sehr heterogenen Erfahrungen zusammengefasst. Dazu zählen auch die im Ausland geborenen Kinder deutscher Eltern. Sie sollten aber nicht – wie Kemper in seinem Kommentar vorschlägt, – von der Erfassung ausgenommen werden, weil dann Einwanderung mit ethnischen und nationalen Merkmalen verknüpft und zu einer Zugehörigkeitskategorie wird (Kommentare Liebscher, Supik, Yildiz).

Intergenerationelle Integrationsverläufe

Erfreulicherweise scheint Einigkeit zu bestehen, dass die sogenannte dritte Generation (wie derzeit im Nationalen Bildungspanel (NEPS) oder in der Studie „Aufwachsen in Deutschland“ (AID:A)) nicht zur Kategorie der Personen mit Migrationshintergrund zählen soll. Bei der sogenannten zweiten Generation gab es dagegen immer wieder Hinweise auf „intergenerationelle“ Dynamiken. Dieses Argument ist nicht überzeugend, denn es werden Daten von Personengruppen verglichen, die nichts direkt miteinander zu tun haben. Beim Vergleich von Eingewanderten und den Nachkommen von Eingewanderten können die betrachteten Eingewanderten zum Teil später geboren und eingewandert sein als die Menschen, die in Statistiken als ihre Nachkommen gelten. Somit werden keine „intergenerationellen Integrationsverläufe“ dargestellt, auch nicht in den amtlichen Daten.

Zusätzlich ändert sich die Zusammensetzung der eingewanderten Bevölkerung ständig und stärker als die der nicht-eingewanderten Bevölkerung, weil es eine hohe und kontinuierliche Fluktuation durch Zu- und Fortzüge gibt. Viele der mithilfe von Migrationshintergrund konstruierten statistischen Unterschiede hängen mit der Zusammensetzung der jeweils miteinander verglichenen Gruppen zusammen, sind also Kompositionseffekte. Nur sehr selten werden wirklich die Eltern derjenigen, die als „Nachkommen Eingewanderter“ identifiziert werden, mit ihnen verglichen. Ein Verzicht auf die statistische Abbildung der Nachkommen Eingewanderter macht die amtliche Statistik daher nicht „blind“ (Kommentare Canan/Petschel, Worbs), sondern transparenter.

Daten zu den Nachkommen Eingewanderter seien wichtig, um Zahlen zu Muslim:innen hochzurechnen (Kommentar Worbs). Dieses Vorgehen ist aber umstritten und migrantisiert Muslim:insein bzw. trägt dazu bei, dass Migrant:insein mit Muslim:insein gleichgesetzt wird (Spielhaus 2013). Konvertit:innen mit standarddeutschen Eltern und Muslim:innen, die keine direkten Nachkommen Eingewanderter sind, werden von vornherein nicht erfasst. Deshalb unterstütze ich sehr die Forderung, Menschen selbst zu fragen, zu welcher Religion sie sich zuzählen möchten (Kommentar Ateş). Das würde über Muslim:innen hinaus die religiöse Pluralität und ggf. auch Areligiosität deutlich besser abbilden.

Einwanderung und Staatsangehörigkeit

Natürlich müssen Angaben zur Staatsangehörigkeit weiterhin erhoben werden (Kommentar Supik). In den Kommentaren wird angeführt, dass „Integrationsverläufe“ oder „Bildungserfolge“ besser mithilfe von Migrationshintergrund als mit Staatsangehörigkeit abgebildet werden (Kommentare Canan/Petschel, Kemper, Pries, Worbs). Dabei werden die Dimensionen Einwanderung und Staatsangehörigkeit vermengt. Bei den formalen Benachteiligungen, die mit Informationen zur Staatsangehörigkeit oder zur Einwanderung verbunden werden, sind direkte Nachfragen unabdingbar. Die (Nicht-)Anerkennung von Bildungsabschlüssen, Deutschkenntnisse oder prekäre Aufenthaltstitel ergeben sich weder aus der Einwanderung noch der Staatsangehörigkeit als solcher und werden schon gar nicht an die Nachkommen vererbt. Die ungleichen Chancen Letzterer basieren auf sozialer Herkunft (Kommentar John) und Rassifizierungen (wozu umfassende Daten fehlen). Tatsächlich lässt sich aus der Information „deutsch“/“nicht-deutsch“ unter anderem wegen der EU-Bürgerschaft nicht viel mehr ableiten als ein fehlendes Wahlrecht auf Landes- und Bundesebene.

Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten

In der Analysekategorie Migrationshintergrund verschwinden Informationen über die unterschiedlichen Grade, von Rassismus betroffen zu sein (Aikins u. a. 2021, 24). Diese Unsichtbarmachung ist Teil einer „Teile-und-Herrsche-Logik“, auf die schon in der RfM-Debatte 2021 hingewiesen wurde (N. K. Ha 2021, 3). Chripa Schneller (2022) hat die Dynamiken dieser Vereinzelungslogik für den Hochschulbereich analysiert und daraus praktische Konsequenzen für die Antidiskriminierungsarbeit abgeleitet.

Die Erhebung von Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten sind ebenfalls ein Teil von Antidiskriminierungsmaßnahmen, wenn sie zu politischem Handeln und gleichen Lebenschancen führen (Gyamerah u. a. 2022). Zukünftig sollte systematisch darauf hingewirkt werden, die bislang fehlenden Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten zu Rassismus und sozialen Unterschieden bereitzustellen. Das sind soziodemografische Kontextdaten, die dann in Kombination mit weiteren Daten genutzt werden. So könnte in den Schulleistungsstudien z.B. abgebildet werden, ob, wo und wie Schulen in adäquater Weise auf eine diverse Zusammensetzung der Schülerschaft im Sinne von Empowerment und Förderung eingehen. So wie es im Grundgesetz und dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz vorgeschrieben ist, dürfen gesellschaftliche Partizipationsmöglichkeiten, zu denen auch Bildungsbeteiligung gehört, nicht von rassistisch-hergestellten, sozialen oder sonstigen Herkünften, Geschlechtsidentitäten, Weltanschauungen oder Behinderungen abhängen.

Freiwillige Selbstauskünfte zu Selbstbezeichnungen und selbstwahrgenommener Fremdzuschreibung

Konsens bestand auch darin, dass die Kategorie Migrationshintergrund nicht geeignet ist, Rassismus und seine Auswirkungen zu messen und zu beschreiben. Rassismus darf und soll in Statistiken aber nicht länger unbenannt bleiben. Die Nicht-Erhebung von Daten erzeugt „weißes Unwissen“ (Kommentar Hendl/James). Mit der vorgeschlagenen Erfassung von Eingewanderten, ergänzt um Selbstbezeichnungen und selbstwahrgenommener Fremdzuschreibung, ist es möglich, Migration, Zugehörigkeit und „rassistische Diskreditierbarkeit“ (vgl. Mecheril 2021, 2), bzw. das rassistische Diskriminierungsrisiko unabhängig voneinander statistisch sichtbar zu machen (Kommentar Supik). In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Selbstbezeichnungen der Befragten zu erfassen (Kommentare Ateş, Yildiz, Supik, Hendl/James, Liebscher).

Gegen die Methode der freiwilligen Selbstauskünfte wurde eingewandt, dass diese für die amtliche Statistik nicht geeignet sei, weil Daten vollständig sein sollen (Kommentare Canan/Petschel, Kemper). Darüber hinaus wurde die Befürchtung ausgesprochen, dass Datenlücken entstehen, weil Befragte erfahrene Diskriminierungen nicht immer als solche erkennen und es noch keine etablierten Fragen dazu gibt (Kommentare Canan/Petschel, Kemper, Pries, Worbs). Mit diesen Einwänden werden aber lediglich ein unbefriedigender Status Quo stabilisiert und argumentative Nebenschauplätze eröffnet.

Hingegen gab es von denjenigen, die die vorgeschlagene Beschränkung auf Eingewanderte befürworten, breite Zustimmung für die Methode der Selbstauskünfte zu Selbstbezeichnungen und selbstwahrgenommener Fremdzuschreibung (Kommentare Ateş, Hendl/James, John, Liebscher, Supik, Yildiz). Selbstverständlich müssen die Auskünfte zu Selbstbezeichnungen freiwillig erteilt werden und Mehrfachangaben sowie offene Eintragungen müssen möglich sein. Es ist kein Manko, Menschen sich selbst kategorisieren zu lassen, sondern ein Fortschritt, weil damit ein Teil der Kategorisierungsmacht in die Hände der Betroffenen zurückgegeben wird. Selbstbezeichnungen sind ein Spiegel der Zuschreibungen, aber auch eine Möglichkeit der Selbstermächtigung (Schneller 2022, 161). Gleichzeitig müssen auch „Standarddeutsche“ (Mecheril und Teo 1994, 9) benannt werden und werden so zu einer Zugehörigkeit neben vielen anderen. Damit verlieren sie ihren privilegierten Status der impliziten, unbenannten Selbstverständlichkeit.

Einige Menschen werden nicht antworten. Das ist aus der dominanten Wissenschaftsperspektive zu akzeptieren und ein deutlicher Hinweis auf fehlendes Vertrauen. Deutschland hat eine belastete statistische Vergangenheit, die eine besondere Verpflichtung und Verantwortung begründet und gerade deshalb nicht dazu führen darf, die Erhebung von Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten abzulehnen (Gyamerah u. a. 2022, 5f.). Wichtiger ist die Berücksichtigung der Kritik der Communities der Rom:nja und Sinti:zze, dass viel Wissen über sie produziert wurde, das Diskriminierung nicht abgebaut, sondern reproduziert und verstärkt hat. Zusätzlich haben Wissenschaftler:innen von dieser Wissensproduktion profitiert, die den beforschten Communities geschadet hat (Unabhängige Kommission Antiziganismus 2021). Der Zweifel an emanzipativen Statistiken ist für viele Betroffene erfahrungsbasiert.

Rassismusforschung ohne die negativ von Rassismus betroffenen Communities stabilisiert weiße Wissensproduktion. Ihre Vertreter:innen sind nicht nur in der Wissenschaft unterrepräsentiert, sondern auch von bewussten und unbewussten Ausschlüssen betroffen. Das zeigen exemplarisch #ichbinreyhan, „Who remains“ (Hamdan u. a. 2021) oder auch ein aktueller Fall, in der eine Schwarze hochqualifizierte Frau Rassismus in der Hochschule aushalten muss.[2] Das Problem ist nicht neu, es wird nur mittlerweile mit großem Mut thematisiert. Von Chripa Schneller werden die Dynamiken aus Sicht der von ihr interviewten Studierenden beschrieben (Schneller 2022). Doch diese Ausschlüsse setzen sich bekanntermaßen – das zeigen die drei genannten Beispiele – auf den weiteren Ebenen fort.[3]

Selbstwahrgenommene Fremdzuschreibung

Die meisten Missverständnisse gab es beim Thema der selbstwahrgenommenen Fremdzuschreibung. Deshalb möchte ich klarstellen, dass es nicht um eine Frage „Wurden sie rassistisch diskriminiert?“ geht. Bejahende Antworten auf diese Frage sind weniger Indikator für tatsächlich erlebte Benachteiligung als vielmehr für Diskriminierungssensibilität (vgl. Fereidooni 2016). Es geht auch nicht darum zu fragen, wie Menschen eine von anderen Personen vorgenommene Etikettierung finden. Vielmehr geht es bei der selbstwahrgenommenen Fremdzuschreibung darum, ob Menschen es erleben, dass sie auf rassifizierender Basis als nicht-zugehörig, als nicht standarddeutsch wahrgenommen werden.

Erste Vorschläge zur Formulierung solcher Fragen und Antwortvarianten liegen vor: So nutzte der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration einmal folgende Formulierung: „Wurden Sie jemals in Deutschland gefragt, ob Sie oder Ihre Eltern im Ausland geboren wurden?“ Als Antwortmöglichkeiten waren „Ja (0) | Nein (1) | Verweigert (97) | Weiß nicht (98)“ vorgegeben (Wittlif und Beigang 2016, 53). Die Organisation Citizens for Europe entwickelte zusammen mit Communities von Rassismus Betroffener die urheberrechtlich geschützte Formulierung: „Rassistische Diskriminierung erfahren vor allem Menschen, die als „fremd“ oder nicht „weiß“ wahrgenommen werden. Wie häufig werden Sie in Deutschland als „fremd“ oder nicht „weiß“ wahrgenommen?“ Die Antwortmöglichkeiten sind: „nie | selten | gelegentlich | oft | (fast)immer“ (CfE 2018, zitiert in Baumann, Egenberger, und Supik 2018, 88). Eine dritte Formulierung lautet: „Werden Sie von anderen Menschen üblicherweise als „deutsch“ aussehend wahrgenommen?“ mit den Antwortmöglichkeiten „1: Ja | 2: Nein | 98: keine Angabe | 99: weiter ohne Angabe“ (KviAPoL-Projektteam 2018, 41).

Nur die zweite Frage bezieht sich explizit auf Rassismus. Die anderen beiden Fragen spiegeln die lebensweltliche Realität einer Imagination von deutsch als sesshaft (nicht aus dem Ausland) und weiß („deutsch“ aussehend) wider. Hier ist institutioneller Wille gefragt, an diesen Fragen weiterzuarbeiten.

Die Betroffenen selbst wissen am besten, worüber sie Auskunft geben und müssen deshalb bei der Entwicklung von Erhebungsinstrumenten und -methoden systematisch und intensiv einbezogen werden. Um die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure sicher zu stellen, müssen unbedingt ausreichende Ressourcen bereitgestellt werden. Es ist symptomatisch, dass sich keine Wissenschaftler:innen, die in Community-Kontexten tätig sind, an dieser Debatte beteiligt haben, bzw. beteiligen konnten – trotz entsprechender Anfragen. Es ist ein Privileg für diesen Diskurs Zeit zu haben oder sich nehmen zu können und Zugänge zu relevanter Hard- und Software, wissenschaftlicher Literatur, zu Daten und zu akademischen Communities zu haben.

Die nächsten Schritte

Geeignete Selbstauskunftsfragen sollten unverzüglich entwickelt werden, damit es zeitnah (z.B. in zwei Jahren) eine akzeptierte statistische Abbildung der Auswirkungen rassistischer Diskriminierung geben kann. Damit nicht in zehn Jahren immer noch argumentiert wird, dass es ja nichts Besseres als die wie auch immer dann benannte und operationalisierte Kategorie Migrationshintergrund gibt, um Benachteiligungen abzubilden.

Eine Vorgabe von Kategorien würde das Antwortverhalten der Befragten leiten und die Auswertung erleichtern. Es ist aber zwingend notwendig, diese Vorgaben mit Selbstorganisationen zusammen zu entwickeln und regelmäßig zu aktualisieren. Denn eine konstante Erfahrung dieser Gruppen ist es, nicht beteiligt und fremdbezeichnet zu werden. Die konkrete Umsetzung der Leitlinien in Bezug auf Antidiskriminierungsdaten (Ahyoud u. a. 2018; Gyamerah/Wagner 2018) muss gemeinsam erarbeitet werden. Ideen und erste Umsetzungserfahrungen gibt es schon und werden in einer Handreichung dargestellt (Gyamerah u. a. 2022). Nun geht es um die konsequente Umsetzung und Weiterentwicklung im Sinne derjenigen, die negativ von Rassismus betroffen sind.

Die Erarbeitung möglicher Fragen und Antwortoptionen darf also – anders als es beim Migrationshintergrund der Fall war – nicht allein Ämtern und Wissenschaftler:innen überlassen werden. Vielmehr ist mit den Organisationen, in denen sich „rassistisch diskreditierbare“ (Mecheril 2021, 2) Menschen u. a. zur Bekämpfung von Diskriminierung organisiert haben, ein gemeinsamer Entwicklungsprozess umzusetzen. Dabei sind migrantische und neue deutschen Organisationen sowie Vertreter:innen anerkannter ethnischer, religiöser und rassistisch diskreditierbarer Minderheiten einzubeziehen. Schon vor Jahren hat es erfolgreich durchgeführte Dialogforen gegeben, auf denen Positionspapiere (Migrant*innenorganisationen 2016) erarbeitet wurden. Sogar ein Gesetzesentwurf für ein Bundespartizipationsgesetz wurde von der Zivilgesellschaft vorgelegt (Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen (BKMO) 2021). Die Integrationsminister:innenkonferenz hat begonnen, den Dialog zu suchen.[4]

Die Daten der amtlichen Statistik können und sollten ergänzt werden durch Befragungen, die von den Communities selbst durchgeführt werden (Kommentar Canan/Petschel, vgl. Gyamerah u. a. 2022 für Beispiele wie den Afrozensus 2020). Die Ämter können sich jedoch nicht aus der Verantwortung nehmen, denn der Staat braucht Steuerungswissen auch in Bezug auf die Auswirkungen rassistischer Diskriminierung. Gleichzeitig muss die Regierung mehr Verantwortung übernehmen, die nötigen Aushandlungsprozesse zu finanzieren und zu moderieren.

Auch für Pilotbefragungen und explorative Befragungen, die von Communities unter ihren Mitgliedern durchgeführt werden, müssen finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Am Ende sind auch Informationskampagnen zu finanzieren, die das Thema „Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten“ in den Communities rassistisch Diskreditierbarer und den als standarddeutsch geltenden Menschen bekannter machen und für Beteiligung und Akzeptanz werben. Zur Beteiligung braucht es vor allem Ressourcen bei den Communities. In forschenden und staatlichen Institutionen gibt es Personal. Hier ist der konsequente Willen zur Veränderung nötig und ein Umdenken von „Integrationsverläufen“ hin zu Diversitätsakzeptanz und Bekämpfung von institutionellem Rassismus.

Die in der Debatte ausgetauschten Argumente bestärken meine Position, nur Eingewanderte zu erfassen, wobei für Minderjährige – und nur für diese – Ausnahmen sinnvoll sein können (siehe Hochstetter/Will 2022). Mit der Beschränkung auf Eingewanderte wird Komplexität reduziert und Platz für Fragen geschaffen, die die Auswirkungen von Rassismus erheben.

Ich schlage deshalb die Einrichtung einer Expert:innenkommission vor, die sich aus Vertreter:innen der rassistisch diskreditierbaren Communities zusammensetzt und mit wissenschaftlichen Expert:innen konkrete Vorschläge für Frage- und Antwortformulierungen erarbeitet. Die Wissenschaftler:innen sollen von den Communities benannt werden. Bei den Formulierungsvorschlägen sollten die Besonderheiten unterschiedlicher Kontexte wie Bildung, Gesundheit, Arbeitsmarkt, öffentliche Verwaltung berücksichtigt und Richtlinien für die Durchführung und Auswertung entwickelt werden, die dann in Pilotbefragungen getestet und mit Informationskampagnen begleitet werden.

Die Verknüpfung der Themen Einwanderung, Zugehörigkeit und Rassismus muss nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im gesellschaftlichen Alltag aufgelöst werden. Sonst werden Angehörige rassifizierter Communities auch in 300 Jahren noch nach ihrer Religion und Integration sortiert und für Expert:innen in Integrationsfragen gehalten, wie es zum Beispiel den Nachfahren des sogenannten Kammertürken Friedrich Christian Aly widerfährt, der als erbeutete Siegestrophäe am Ende des 17. Jh. nach Berlin verschleppt wurde.[5] Das Aufgeben der statistischen Kategorie Migrationshintergrund ist ein wichtiger Schritt, um die Nachkommen Eingewanderter zu de-migrantisieren und gleichzeitig Einwanderung als deutsche Normalität zu akzeptieren.

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[1] Außerdem danke ich herzlich der Debatten-Redaktion des Rates für Migration mit Ulrike Zöller, Bernd Kasparek, Norbert Cyrus sowie Stefan Kretzmann.

[2] Ein aktueller Fall findet sich hier: https://www.change.org/p/solidarit%C3%A4t-mit-dr-annah-keige-huge?recruiter=1278241408&recruited_by_id=75262290-3f15-11ed-95c2-b7bb09fb75e7&utm_source=share_petition&utm_campaign=share_for_starters_page&utm_medium=email

[3] So ist es auch kein Zufall, dass ich als weiße, durch Rassismus privilegierte Wissenschaftlerin hier schreibe, egal wie migrationsgeprägt mein Stammbaum ist.

[4] https://www.integrationsministerkonferenz.de/documents/beschlussniederschrift-der-17-intmk_1655292770.pdf, S. 17, 1.

[5] Vgl. https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/der-historiker-gotz-aly-ist-nachfahre-des-urturken-5443213.html

 

 

 

Literatur

Ahyoud, Nasiha, Joshua Kwesi Aikins, Samera Bartsch, Naomi Bechert, Daniel Gyamerah, und Lucienne Wagner. 2018. „Wer nicht gezählt wird, zählt nicht: Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten in der Einwanderungsgesellschaft – eine anwendungsorientierte Einführung“. https://cloud.citizensforeurope.org/index.php/s/fNgD0cOAAJmM57W#pdfviewer.

Aikins, Muna AnNisa, Teresa Bremberger, Joshua Kwesi Aikins, Daniel Gyamerah, und Deniz Yıldırım-Caliman. 2021. „Afrozensus 2020: Perspektiven, Anti-Schwarze Rassismuserfahrungen und Engagement Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen in Deutschland“. https://afrozensus.de/reports/2020/Afrozensus-2020-Einzelseiten.pdf.

Baumann, Anne-Luise, Vera Egenberger, und Linda Supik. 2018. „Erhebung von Antidiskriminierungsdaten in repräsentativen Wiederholungsbefragungen“. https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Expertisen/erhebung_von_antidiskr_daten_in_repr_wiederholungsbefragungen.pdf;jsessionid=35BBA074DC03C03EEFE8444CFE433151.intranet242?__blob=publicationFile&v=2.

Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen (BKMO). 2021. „Entwurf des Gesetzes zur Förderung von Teilhabe und Partizipation und zur Bekämpfung der rassistischen Diskriminierung. (Bundespartizipationsgesetz)“. http://s890498910.online.de/wp-content/uploads/2021/11/Gesetzentwurf_Bundespartizipationsgesetz_V4b_Nov2021.pdf.

Fereidooni, Karim. 2016. „Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen von Referendar*innen und Lehrer*innen ‚mit Migrationshintergrund‘ im deutschen Schulwesen.“ https://doi.org/10.11588/HEIDOK.00020203.

Goffman, Erving. 1992[1996]. Stigma: Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Gyamerah, Daniel, Daniel Bartel, Deniz Yıldırım-Caliman, Eva Maria Andrades, Teresa Bremberger, und Joshua Kwesi Aikins. 2022. „Diskriminierung, Repräsentation und Empowerment: 12 Methoden zur Erhebung von Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten auf dem Weg zu Communities-basierten Monitorings (CBM)“. http://www.vielfaltentscheidet.de/publikationen und https://www.antidiskriminierung.org/publikationen-advd.

Gyamerah, Daniel, und Lucienne Wagner. 2018. „gleich ≠ gleich: Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten & positive Maßnahmen für einen effektiven Diskriminierungsschutz“. https://neuedeutsche.org/fileadmin/user_upload/Publikationen/RZ_NDO_Fact_ADGD_1_05.pdf.

Ha, Noa K. 2021. „Antirassismus als (Forschungs-)Praxis ist eine dringende Notwendigkeit für eine plurale Gesellschaft“. https://rat-fuer-migration.de/wp-content/uploads/2021/08/RfM-Debatte-2021.-Welche-Rassimusforschung-braucht-Deutschland.-Kommentar-von-Noa-K.-Ha.pdf.

Hamdan, Nuriani, Dimitra Dermitzaki, Alina Goldbach, Ali Konyali, Hanna Mai, Saboura Naqshband, und Bahar Oghalai. 2021. „‘Who remains?’ (Part 1): Before we even start our research…“. German Historical Institute London Blog (blog). 6. Januar 2021. https://ghil.hypotheses.org/265.

Hochstetter, Bernhard, und Anne-Kathrin Will. 2022. „Die Erfassung der eingewanderten Bevölkerung und ihrer Nachkommen im Mikrozensus: Vorschlag für ein neues Konzept jenseits des Migrationshintergrunds“. Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg, Nr. 6+7: 3–15.

KviAPoL-Projektteam. 2018. „Forschungsprojekt KviAPol-Fragebogen“. Bochum. https://kviapol.rub.de/images/pdf/KviAPol_Fragebogen.pdf.

Mecheril, Paul. 2021. „Begehren, Familienähnlichkeiten, postpositivistische Analyse – von Rassismusforschung zu rassismuskritischer Forschung“. https://rat-fuer-migration.de/wp-content/uploads/2021/11/RfM-Debatte-2021.-Welche-Rassimusforschung-braucht-Deutschland.-Kommentar-von-Paul-Mecheril.pdf.

Mecheril, Paul, und Thomas Teo, Hrsg. 1994. Andere Deutsche: zur Lebenssituation von Menschen multiethnischer und multikultureller Herkunft. Berlin: Dietz.

Migrant*innenorganisationen. 2016. „Impulspapier der Migrant*innenorganisationen zur Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft“. https://www.multikulti-forum.de/system/files/2019-09/Impulspapier-MigrantInnenorganisationen-zur-Einwanderungsgesellschaft-2016.pdf.

Schneller, Chripa. 2022. „Does migration matter? Rassifizierende Zugehörigkeitsordnungen im Raum Hochschule und Umgangsstrategien mit der Ansprache als Studierende mit ,Migrationshintergrund‘“. Unveröffentlichte Dissertationsschrift, Bremen: Universität Bremen.

Spielhaus, Riem. 2013. „Wer ist Muslim und wenn ja, wie viele?“ https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Muslime_Spielhaus_MDI.pdf.

Unabhängige Kommission Antiziganismus. 2021. „Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus Perspektivwechsel – Nachholende Gerechtigkeit – Partizipation“. https://dserver.bundestag.de/btd/19/303/1930310.pdf.

Wittlif, Alex, und Steffen Beigang. 2016. „SVR-Integrationsbarometer 2016“. https://www.svr-migration.de/wp-content/uploads/2016/04/Methodenbericht-zum-Integrationsbarometer-2016.pdf.