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Sich statistisch blind zu machen löst keine gesellschaftlichen Probleme

Kommentar von Dr. Susanne Worbs, Forschungszentrum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge*

– Einreichung am 28. August 2022

Als ehemaliges Mitglied der Fachkommission Integrationsfähigkeit freue ich mich, dass der Kommissionsvorschlag zum „Migrationshintergrund“ so lebhafte Reaktionen hervorgerufen hat. Dies zeigt sich nicht zuletzt in dieser vom Rat für Migration angestoßenen Debatte. Sie ist richtig und wichtig, weil es um viel mehr geht als nur um eine statistische Kategorie. Gleichwohl, um einen meiner Kerngedanken gleich voranzustellen, plädiere ich nachdrücklich dafür, solche Kategorien nicht mit Erwartungen zu überfrachten – und nicht aus den Augen zu verlieren, was ihr eigentlicher Sinn ist. Sie werden immer nur unvollkommene Werkzeuge unserer Erkenntnis der Wirklichkeit sein, das liegt in ihrer Natur. Das, was sie leisten können, sollte aber auch nicht leichtfertig aus der Hand gegeben werden, um damit (vermeintlich) die Gesellschaft zu verbessern.

Anne-Kathrin Will hat in ihrem Initialbeitrag dafür plädiert, anstelle des bisherigen „Migrationshintergrunds“ nur noch eingewanderte Personen zu erfassen und als solche auszuweisen, also keine Nachkommen mehr, um damit die „Logik der Vererbung von Fremdheit“ aufzubrechen. Diesen Vorschlag hat bereits Barbara John im Rahmen ihrer abweichenden Stellungnahme zum entsprechenden Kapitel 5.8 des Fachkommissions-Berichtes vorgebracht. Sie hat dies im Wesentlichen damit begründet, dass ein Konzept notwendig sei, „das eindeutig die Zusammengehörigkeit der Gesamtbevölkerung zum Ausdruck bringt“ (FKI 2020: 224f.). Zusammengehörigkeit soll also gefördert und umgekehrt sollen Ausgrenzung und Diskriminierung sowohl sichtbar gemacht als auch bekämpft werden. Dass all das mit dem „Migrationshintergrund“ nicht gelänge, wird diesem quasi als Geburtsfehler zur Last gelegt, er „migrantisiere“ und „verausländere“, so wiederum Anne-Kathrin Will. Für Nachkommen von selbst eingewanderten Menschen stelle sich im Übrigen die Frage, „ob überhaupt von ‚Integration‘ gesprochen werden darf oder immer von Diskriminierung gesprochen werden muss.“

Die mittlerweile fast ausschließliche Fokussierung der Debatte um den „Migrationshintergrund“ auf den Kontext von Diskriminierung und Rassismus ist augenfällig und wird im Debattenbeitrag von Merih Ateş noch deutlicher. Dort wird gar gefordert, „den Migrationshintergrund nicht länger als Goldstandard (Default-Kategorie) zur Untersuchung von rassistischer Diskriminierung und Ungleichheit zu verwenden.“ Nur: Das war er nie und dafür ist das Konzept auch nicht gedacht. Bei seiner Einführung in den Mikrozensus kurz nach der Jahrtausendwende ging es zunächst ganz schlicht darum, die amtliche Statistik in Deutschland an die Realitäten des Landes anzupassen, was mit der bis dato vorherrschenden Unterscheidung zwischen deutschen und ausländischen Staatsangehörigen erkennbar nicht mehr gelang. Die Wirkungen dieses Schritts waren erheblich, weil die neuen Zahlen vielerorts überhaupt erstmalig ein Bewusstsein schufen, in welch hohem Maße Migration unsere Gesellschaft bereits geprägt hat und weiter prägen wird. Darauf hat auch Ludger Pries in seinem Debattenbeitrag richtigerweise hingewiesen: Die gesellschaftliche (Eigen-)Wahrnehmung von Deutschland als Einwanderungsland hat durch den Migrationshintergrund einen beträchtlichen Schub erhalten. Daneben ergaben sich ab 2005, der erstmaligen Veröffentlichung solcher Daten im Mikrozensus, für die Integrationsforschung und –berichterstattung auf allen föderalen Ebenen ganz neue Potenziale, die dankbar genutzt wurden, so beispielsweise im gemeinsamen Integrationsmonitoring der Bundesländer, das seit 2011 regelmäßig vorgelegt wird.[1] Dies gilt übrigens auch für andere, querschnittlich liegende Themenfelder, man denke nur an die Armutsberichterstattung und die Statistiken der Bundesagentur für Arbeit, die ebenfalls mit dem Migrationshintergrund arbeiten.

Nun sind „historische Leistungen“ eines Konzeptes kein Grund, sich Überlegungen zu verweigern, ob es mehr als 15 Jahre nach seiner Einführung noch angemessen ist. Die Fachkommission hat sich in ihrem Bericht intensiv mit den analytischen und normativen Schwachstellen des Migrationshintergrunds befasst. Sie hat auch klar formuliert, dass sie ihren eigenen neuen Vorschlag der „Eingewanderten und ihrer (direkten) Nachkommen“ keineswegs für den Stein der Weisen hält, weil es praktisch unmöglich ist, sämtliche damit verbundenen Wünsche zu erfüllen.[2] Grundlegend war für mich (und wohl die meisten anderen Mitglieder der Kommission) jedoch die Überlegung, dass dieses oder ein abgewandeltes Konzept im Rahmen der amtlichen Statistik zwei grundlegende Zwecke verfolgt: Erstens soll damit ein wesentliches Strukturmerkmal der Bevölkerung – nämlich die Tatsache, dass in erheblichem Umfang eingewanderte Menschen und ihre Nachkommen in Deutschland leben – abgebildet werden, ähnlich beispielsweise wie die Differenzierung nach Geschlecht, Alter oder regionaler Verteilung der Einwohnerinnen und Einwohner. Und zweitens sollen Aussagen darüber möglich sein, ob die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (oder weiter differenzierten Subkategorien[3]) mit anderen Lebenslagen und -chancen einhergeht, wenn mit nicht eingewanderten Menschen und deren Nachkommen verglichen wird. Dies beantwortet noch nicht die Frage, worauf solche Unterschiede genau zurückzuführen sind. Sie ist Gegenstand der empirischen Sozialforschung und nicht der (amtlichen) Statistik, und selbstverständlich ist der Migrationshintergrund als solcher keine hinreichende erklärende Variable.

Auch ohne diese kausale Erklärungskraft ist dieser Anspruch an das Konzept kein geringer. Ihn aufzugeben bedeutet meines Erachtens, sich absichtlich blind für wesentliche gesellschaftliche Phänomene zu machen. Stattdessen (ausschließlich) einen bunten Strauß von „Selbst- und Fremdzuschreibungen“[4] zu erheben und auszuweisen, wird den Informations- und Steuerungsbedürfnissen einer modernen, hochkomplexen Gesellschaft schlicht nicht gerecht. Solche Kategorien können ergänzend und für bestimmte Erkenntniszwecke sinnvoll sein, wie eben in der Forschung zu Diskriminierung und Rassismus, aber sie sind kein Ersatz für basale Daten der amtlichen Statistik. Thomas Kemper hat in seinem Debattenbeitrag detailliert dargelegt, welche Probleme es mit sich bringen würde, wenn nur noch freiwillige und subjektive Selbstauskünfte statt eines Konzeptes wie „Migrationshintergrund“ zum Einsatz kämen, und ich stimme seiner Einschätzung nachdrücklich zu, dass ein solches Vorgehen „kaum ein Problem lösen, sondern verschiedene neue schaffen“ würde.

Warum nun sollten auch weiterhin Nachkommen eingewanderter Menschen Teil des „Migrationshintergrunds“ oder eines vergleichbaren Konzeptes sein? Der Vorschlag der Fachkommission bietet in dieser Hinsicht meines Erachtens einen klaren Fortschritt gegenüber dem Status quo, weil die bisherige Definition im Mikrozensus, die auf die Staatsangehörigkeit bei der Geburt abstellt, zu einem unentwirrbaren Konglomerat von „Menschen mit Migrationshintergrund, aber ohne eigene Migrationserfahrung“ führt. Sie können Kinder, Enkel/-innen oder im Einzelfall sogar Urenkel/-innen der ursprünglich migrierten Personen sein. Der Kommissionsvorschlag beschränkt sich hingegen eindeutig auf die „2. Generation“, also die im Inland geborenen Kinder migrierter Personen, und zwar im Gegensatz zur bisherigen Definition auch nur, wenn beide Elternteile eingewandert sind. Dass sich für diese Gruppe noch unmittelbare Auswirkungen der Migration der Eltern auf Lebenschancen und sozialstrukturelle Positionierung ergeben und dass sich Integrationsprozesse intergenerational vollziehen, ist ein wichtiges Ergebnis der Forschung. Es entstünde somit eine wesentliche Lücke in der Datengrundlage, wenn die amtliche Statistik die Nachkommen völlig außer Acht lässt. Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang der große Stichprobenumfang des Mikrozensus und die Auskunftspflicht, was im Vergleich zu Erhebungen der empirischen Sozialforschung eine sehr viel höhere Belastbarkeit der gewonnenen Daten mit sich bringt. Daneben liefern diese Zahlen auch wichtige Referenzpunkte für die Wissenschaft, beispielsweise bei Stichprobenziehungen bzw. der Einschätzung von deren Güte, oder für Hochrechnungen, wie sie das Forschungszentrum des BAMF schon mehrfach für die Zahl der Musliminnen und Muslime in Deutschland vorgelegt hat (vgl. Haug et al. 2009; Stichs 2016; Pfündel et al. 2021). Diese vielzitierten Ergebnisse wären ohne das bisherige Konzept des Migrationshintergrunds – inklusive Nachkommen – nicht möglich gewesen.

So ganz scheint übrigens Anne-Kathrin Will selbst nicht von ihrem „nachkommenlosen“ Vorschlag im Initialbeitrag überzeugt zu sein, dies zeigt ein anderer Aufsatz gemeinsam mit Bernhard Hochstetter vom Statistischen Landesamt Baden-Württemberg (Hochstetter/Will 2022). Dieser enthält den Vorschlag, Minderjährige beim „Migrationshintergrund“ (oder einer wie auch immer zu benennenden Kategorie) mit zu berücksichtigen, sofern diese mit ausschließlich nach 1950 eingewanderten Eltern im Haushalt leben, inklusive Fällen mit einem alleinerziehenden eingewanderten Elternteil. Diese Überlegungen sind sehr differenziert und interessant, werfen aber aus meiner Sicht auch Fragen auf wie die, ob eine Beschränkung der Nachkommen auf minderjährige Personen – was bedeuten würde, dass sie mit der Volljährigkeit aus der entsprechenden Kategorie „herausfallen“ – nicht logische Brüche im Konzept mit sich bringt. In diesem Sinne: Die Debatte muss und darf gern weitergehen!



[1] Siehe https://www.integrationsmonitoring-laender.de/startseite (Abruf am 21.09.2022).
[2] „Die Fachkommission ist sich einig, dass auch dieser Begriff Probleme aufwirft. Eine ideale Lösung im Sinne eines universell einsetzbaren Begriffs, der sowohl wissen­schaftliche als auch umgangssprachliche und politische Erwartungen erfüllt, ist jedoch aus Sicht der Mitglieder nicht möglich“ (FKI 2020: 10). Berechtigt ist in diesem Zusammenhang die im Initialbeitrag von Anne-Kathrin Will geäußerte Kritik, dass die Kommission sich nicht zu der Frage verhalten hat, wie denn die entsprechende Bezugskategorie (also bisher: Personen ohne Migrationshintergrund) benannt werden soll. Diese terminologische Frage wurde damit de facto an das Statistische Bundesamt delegiert, das momentan auf Basis des Kommissionsvorschlages ein paralleles Datenangebot zum „Migrationshintergrund“ entwickelt.
[3] In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass das Statistische Bundesamt nie „nur“ den Migrationshintergrund ausgewiesen, sondern von Anfang an zahlreiche Feindifferenzierungen der entsprechenden Daten angeboten hat. Dazu zählt grundlegend die Unterscheidung von Personen mit und ohne eigene Migrationserfahrung. Das „foreign born“-Konzept bzw. die Anschlussfähigkeit daran war deshalb zumindest in den Mikrozensusdaten immer gegeben.
[4] Ludger Pries hat in seinem Debattenbeitrag treffend darauf hingewiesen, dass weder die Strategie der „Farbenblindheit“ in Frankreich und der Glaube, dass die französische Staatsangehörigkeit allein Menschen integriere, noch der britische Multikulturalismus mit seinen entsprechend vielfältigen Möglichkeiten der (Selbst-)Kategorisierung im nationalen Zensus Diskriminierung und Rassismus in diesen Ländern verhindert haben. Im Gegenteil hat beides nur zu subtileren Mechanismen der Ausgrenzung geführt. Dies unterstreicht mein Argument, dass statistische Kategorien per se keine bessere (oder schlechtere) Welt schaffen, und zwar unabhängig davon, wie sie konkret ausgestaltet sind. In meiner abweichenden Stellungnahme für die Fachkommission hatte ich auch darauf hingewiesen, dass ein Stigmatisierungspotenzial solcher Kategorien leider immer besteht (FKI 2020: 225f.).

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Literatur

FKI – Fachkommission Integrationsfähigkeit (2020): Gemeinsam die Einwanderungsgesellschaft gestalten. Bericht der Fachkommission der Bundesregierung zu den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit, Berlin.

Haug, Sonja/Müssig, Stephanie/Stichs, Anja (2009): Muslimisches Leben in Deutschland. Im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz. Forschungsbericht, 6, Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

Hochstetter, Bernhard/Will, Anne-Kathrin (2022): Die Erfassung der eingewanderten Bevölkerung und ihrer Nachkommen im Mikrozensus. Vorschlag für ein neues Konzept jenseits des Migrationshintergrunds, in: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 6+7/2022, S. 3-15

Pfündel, Katrin/Stichs, Anja/Tanis, Kerstin (2021): Muslimisches Leben in Deutschland 2020 – Studie im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz. Forschungsbericht 38 des Forschungszentrums des Bundesamtes, Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

Stichs, Anja (2016): Wie viele Muslime leben in Deutschland? Eine Hochrechnung über die Anzahl der Muslime in Deutschland zum Stand 31.12.2015 im Auftrag der Deutschen Islamkonferenz. Working Paper 71 des Forschungszentrums des Bundesamtes, Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

*Die Autorin war Mitglieder der Fachkommission Integrationsfähigkeit und maßgeblich an der Ausarbeitung des Kommissionsvorschlags zum „Migrationshintergrund“ beteiligt. Der Beitrag gibt ausschließlich ihre persönliche Sichtweise wieder.