Kommentar von
Dr.‘in Melanie David-Erb, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Arbeitsbereich Literalität und einwanderungsbedingte Mehrsprachigkeit
Prof.‘in Dr.‘in Galina Putjata ist Professorin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Arbeitsbereich Literalität und einwanderungsbedingte Mehrsprachigkeit
– Einreichung am 01. September 2023
Die Überlegungen von Judith Purkarthofer und Christoph Schröder in ihrem Initialbeitrag und die weiterführende Kommentierung von Britta Schneider nehmen wir als Ausgangspunkt, um das Augenmerk auf einen möglichen pragmatischen Umgang mit Mehrsprachigkeit in der Schule zu richten und zu versuchen auf der Basis des Translanguaging-Ansatzes, eine Antwort auf die Ausgangsfrage von Purkarthofer und Schröder zu finden, wie es gelingen kann, Anforderungen an Sprecher*innen und ihre Ein- bzw. Mehrsprachigkeit nicht als Einpassung in einen nationalen Rahmen zu formulieren, sondern als Aushandlung in einem oder mehreren Kontexten. Das Ziel dieses Ansatzes ist es, minorisierte Schüler*innen zu unterstützen: Sie werden als sprachlich kompetent wahrgenommen und ihre gleichberechtigte Teilhabe an Bildung wird ermöglicht, indem die daraus abgeleiteten didaktischen Ansätze ihre individuellen sprachlichen Praktiken legitimieren und zum Ausgangspunkt unterrichtlichen Handelns machen (vgl. Thöne/Kölling 2023, 16).
Historisch: Nationalstaatlichkeit und monolinguale Schule
Das Ideal der Einsprachigkeit hat seinen historischen Ursprung im 19 Jhd., in der Zeit der Entstehung der Nationalstaaten nach europäischer Prägung (Adick 2005; Gogolin 2009, 11). Ein nationales Staatswesen brachte zu seinem eigenen Erhalt ein nationales Schulwesen hervor, das sich ausschließlich einer, nämlich der einen und einzigen Nationalsprache bedient. Staat, Schule und Sprache wurden zu dieser Zeit als einander wechselseitig bedingende Faktoren konstruiert und bilden bis heute eine wirkmächtige und scheinbar unauflösbare Verbindung. Einsprachigkeit etablierte sich als staatsbildender Mythos (Hobsbawm 1991/2004) und wurde common sense in der Gestaltung staatlicher Institutionen und in besonderer Weise des Bildungswesens, dessen Funktion durch die Bildung neuer Staatsbürger*innen in nichts Geringerem als der Sicherung des Fortbestandes der Nation liegt. Im Prozess des nation-building trieben nationale Bildungswesen eine kulturelle Homogenisierung voran (Adick 2005, 245), deren vielleicht sichtbarste Maßnahme die Monolingualisierung war (David-Erb/Panagiotopoulou, voraussichtl. 2024).
Während noch in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts der Mythos eines sogenannten ausgeglichenen Bilingualismus vorherrschte – die Vorstellung, dass eine zweisprachige Person nichts anderes sei als zwei Einsprachige (Weinreich 1953, 73), zeigen linguistische und erziehungswissenschaftliche Forschungen seit den 1990ern, dass derartige bis heute im Alltagsdiskurs übliche Vorstellungen von Ein- bzw. Mehrsprachigkeit Idealisierungen sind, die tatsächlichen sprachlichen Kompetenzen wie auch Performanzen Mehrsprachiger kaum entsprechen. Heute wissen wir aus der Psycholinguistik, dass Sprachsysteme neuronal nicht getrennt voneinander gespeichert sind, sondern ein dynamisches, aufeinander aufbauendes Netzwerk bilden (Jessner 2008).
Argumente aus der Psychologie betonen die Bedeutung aller sprachlichen Ressourcen bei Denk- und Lernprozessen. Diese Erkenntnisse gehen auf neuro- und psycholinguistische Studien zum Zusammenhang zwischen sprachlicher und kognitiver Entwicklung im mehrsprachigen Spracherwerb zurück (Cummins 2010, Lengyel 2017).
Für Unterrichtskontexte haben diese Erkenntnisse zur Folge, dass der Zugriff auf das gesamte sprachliche Repertoire einer mehrsprachigen Person den kognitiven Transfer begünstigt. In der Diskussion über Bildungsprogramme werden diese Erkenntnisse aufgegriffen, woraufhin die Forderung aufgestellt wird, mehrsprachige Kinder im Kita-Alltag und im Unterricht beim Denken und Handeln in allen ihnen zur Verfügung stehenden Sprachen und sprachlichen Varietäten zu unterstützen (Fürstenau 2011, Reich & Krumm 2000). Fachdidaktische Konzepte wie solche des Translanguaging legen nahe, dass Lernende davon profitieren, wenn sie ihr gesamtes Repertoire an sprachlichen Fähigkeiten in den Unterricht einbringen, um individuelle Bedeutungskonstruktionen vorzunehmen (Cenoz/Gorter 2017; Blackledge/Cresse 2010; García/Lin 2016).
Translanguaging – ein Konzept für Theorie und Praxis
In der wissenschaftlichen Diskussion um Unterricht mit mehrsprachigen Lerngruppen findet das Konzept des Translanguaging nach Ofélia Garcìa und Kolleg*innen zunehmend Beachtung. Sie fokussieren auf beobachtbare multiple Sprachpraktiken von mehrsprachigen Sprecher*innen. Der Begriff des Translanguaging wird heute sowohl für diese Sprachpraktiken genutzt als auch für pädagogische Ansätze, die sich diese Praktiken zu Nutze machen. Thöne und Kölling (2023) legen einen übersichtlichen und kritischen Forschungsstand hierzu vor, in dem sie unter anderem Begriffsarbeit leisten: Sie leiten aus diversen Definitionen u.a. von García und Wei (2014), Cummins (2021) und anderen ein Kernkonstrukt ab, das sich in allen Perspektiven auf Translanguaging findet und für beide Verwendungsweisen konstituierend ist: „Alle Sprachen einer Sprecherin oder eines Sprechers werden in einer dynamischen und funktional integrierten Weise für kognitive Prozesse wie Verstehen, Wissensbildung und Bedeutungskonstruktion sowie für mehrsprachiges kommunikatives Handeln verwendet” (Thöne/Kölling 2023, 16). Aus diesem Grundgedanken heraus leiten Garcìa und Kolleg*innen sowohl eine (Sprach-)Theorie als auch Konsequenzen für den Unterricht her. Dabei betonen sie, dass sie ihr Konzept in erster Linie in Hinblick auf Menschen entwickelt haben, die minorisierten sprachlichen Gruppen angehören (Garcìa 2017, 256f.).
Garcìa et al. legen dem Konzept des Translanguaging eine fundamentale Neuorientierung zum Sprachenbegriff zugrunde. Sie brechen mit der allgemein verbreiteten Vorstellung, Sprachen seien auf kognitiver Ebene voneinander abgrenzbare Entitäten. Stattdessen gehen sie davon aus, dass die sprachlichen Fähigkeiten Mehrsprachiger in einem einzigen und in sich undifferenzierten mentalen System zusammenkommen. Damit leugnen sie nicht die Existenz von Einzelsprachen als sozial konstruierte und wirksame Realitäten, sondern zeichnen ein neues Bild von der kognitiven Seite der individuellen Sprachverarbeitung. In der Folge liegen den sprachlichen Praktiken Mehrsprachiger auch keine voneinander getrennten autonome mentalen Systeme zugrunde, aus denen sich Äußerungen in der einen oder anderen Sprache speisen, sondern Mehrsprachige bedienen sich an einem einzigen inneren sprachlichen System, in dem alle ihre sprachlichen Kompetenzen netzwerkartig miteinander verbunden sind. Dementsprechend sprechen sie keine verschiedenen Sprachen, sondern bedienen sich an einem Gesamtrepertoire in einer Weise, die ihnen je situativ abhängig als strategisch sinnvoll erscheint, um effektiv zu kommunizieren.
Auch wenn eine der fundamentalsten Kritiken an Garcìas Konzept des Translanguaging in dessen Kern zielt – die basale Annahme eines einzigen sprachlichen Repertoires auf kognitiver Ebene ist neurologisch (noch) nicht belegt – eröffnet es doch Möglichkeiten eines Umdenkens über sprachliche Praktiken, das weg von normativen Ordnungen, hin zu kommunikativem Nutzen orientiert ist und dadurch Chancen für gleichberechtigte Teilhabe bergen kann, wenn es sich in unterrichtlicher Praxis niederschlägt.
Methodische Ansätze zum unterrichtlichen Einbezug – Didaktik der Quersprachigkeit
Grundlegend wichtig für den Einbezug des gesamten sprachlichen Repertoires in schulische Bildungsprozesse ist die Legitimation aller mitgebrachten sprachlichen Wissensbestände und die Anerkennung der Notwendigkeit ihres Einbezugs für den Bildungserfolg der betreffenden Schüler*innen. Auf der Ebene des Pädagogischen erkennt das Konzept des Translanguaging die individuellen dynamischen sprachlichen Systeme der Schüler*innen an und macht sie zum Ausgangspunkt unterrichtlichen Lehrerhandelns, das darauf zielt, den Kindern zu ermöglichen, ihr gesamtes sprachliches Repertoire für die Gestaltung ihres Bildungsprozesses einzusetzen. Dazu zählen beispielsweise Recherchearbeiten in allen zur Verfügung stehenden Sprachen oder die Gestaltung der Sozialform, so dass die Wissensaneignung in Eigen- Partner- und Gruppenarbeit in Familiensprachen erfolgen kann.
Zwar wird im deutschsprachigen Raum (anders als im anglophonen) noch vorwiegend die theoretische Seite des Translanguaging-Konzeptes besprochen, es finden sich aber dennoch auch Reflexionen zu unterrichtlicher Praxis, die darauf aufbauen und zum Teil recht konkret unterrichtliches Lehrerhandeln skizzieren (z.B. Montanari/Panagiotopoulou 2019). Montanari und Panagiotopoulou gehen davon aus, dass Mehrsprachige lernen, in mehrsprachigen Situationen angemessen zu kommunizieren, indem sie (auch in schulischen Kontexten) situativ passend, flexibel, mehr- und quersprachig (d.h. translingual) handelnd lernen dürfen (Montanari/Panagiotopoulou 2019, 37). Sie fordern, konkrete familiale Sozialisationsbedingungen von Schüler*innen zu berücksichtigen, statt sie pauschal zu problematisieren und schließen sich damit Chilla und Niebuhr-Siebert (2017, 98) an, die sich für einen alltagsintegrierten Ansatz mehrsprachiger Bildung aussprechen und schreiben „Solang mehrsprachige Kommunikation unsichtbar bleibt, kann Mehrsprachigkeit nicht als Bildungsressource genutzt werden.” Im deutschsprachigen Kontext hat in Einklang damit Oomen-Welke (2003) eine mehrsprachige Deutschdidaktik für die Schule konzipiert und List (2004) für eine “Didaktik der Quersprachigkeit” in Kitas plädiert. Konkrete Vorschläge didaktischer Konzeptionierungen des Gebrauchs von Sprachen in einer mehrsprachigen Lerngruppe legen Garcìa, Flores und Woodley (2012) vor, die Transglossic Spaces als zentrales Element hervorheben, also quersprachige Spielräume, in denen Schüler*innen ihr gesamtes sprachliches Repertoire selbstbestimmt zu Lernzwecken einsetzen können. Flores (2020) schildert aus seinen Feldstudien eine Situation, die Thöne und Kölling (2023) auf das Essentielle verkürzt referieren: „Unter Anleitung der Lehrerin analysieren die spanisch-englisch bilingualen Kinder an einem zweisprachigen Mentorentext zum Thema Familie die darin eingesetzten translingualen rhetorischen Strategien zur Charakterisierung von [literarischen, MDE/GP] Figuren. Mithilfe der Lehrerin wird anschließend gemeinsam in der Klasse ein zweisprachiger Modelltext erstellt und im Hinblick auf die Funktion des Einsatzes translingualer Gestaltungsmittel besprochen. In den darauffolgenden eigenständigen thematisch anschließenden Textproduktionen wenden die Kinder ebenfalls translinguale Strategien an und spiegeln so ihre eigenen multilingualen Sprachpraktiken wieder. Auf diese Weise stellt der Unterricht über die Textprodukte der Schüler:innen eine Verbindung zwischen den schulischen Anforderungen und ihrer eigenen Lebenswelt her.”
Es fehlen im deutschsprachigen Raum in Wissenschaft ebenso wie in pädagogischer Praxis Reflexionen, Analysen und Handreichungen, die die komplexen theoretischen Überlegungen illustrieren und in bildungspraktisches Handeln zu überführen helfen. Das ist unseres Erachtens aber vonnöten, weil wir darin das Potenzial erkennen, Anforderungen an Sprecher*innen und ihre Ein- bzw. Mehrsprachigkeit in Bildungskontexten nicht als Einpassung in einen vorgegebenen nationalen Rahmen zu formulieren, sondern als Aushandlungsprozess vorzustellen, der das Potential hat, Bildungsungleichheiten zu reduzieren.
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Literatur:
Creese, A. & Blackledge, A. (2010): Translanguaging in the bilingual classroom: A pedagogy of learning and teaching? In: The Modern Language Journal, 94(i). doi:0026-7902/10/, 103–115.
Chilla, Solveig & Niebuhr-Siebert, Sandra (2017): Mehrsprachigkeit in der KiTa. Grundlagen – Konzepte – Bildung. Stuttgart: Kohlhammer.
Cenoz/Gorter 2017;
Cummins, J. (2021). Rethinking the Education of Multilingual Learners: A Critical Analysis of Theoretical Concepts. Bristol: Multilingual Matters. https://doi.org/10.17763/1943-5045-87.3.404
Flores, N. (2020). From academic language to language architecture: Challenging raciolinguistic ideologies in research and practice. Theory into practice, 59(1), 22–31. https://doi.org/10.1080/00405841.2019.1665411
Garcia, O., Flores, N., & Woodley, H. (2012). Transgressing Monolingualism and Bilingual Dualities: Translanguaging Pedagogies. In A. Yiakoumetti (Ed.), Harnessing Linguistic Variation to Improve Education (pp. 45-75). Peter Lang.
García, Ofelia & Li Wei (2014): Translanguaging: Language, Bilingualism and Education. Basingstoke u. a.: Palgrave Macmillan.
García, O. & Lin, A. M. Y. (2017). Translanguaging in Bilingual Education. In O. Garcia,A. M. Y. Lin & S. May (Hrsg.), Bilingual and Multilingual Education, 117–130. Cham: Springer International Publishing AG. https://doi.org/10.1007/978-3-319-02258-1_9
García, O. (2017). Translanguaging in Schools: Subiendo y Bajando, Bajando y Subiendo as Afterword. Journal of Language, Identity & Education, 16(4), 256–263. https://doi.org/ 10.1080/15348458.20 17.1329657
List, Günther (2004): In: Ein- und Zweisprachigkeit, Mehr- und Quersprachigkeit: historisch. In: Quetz, Jürgen & Solmecke, Gert (Hrsg.): Brücken schlagen. Fächer – Sprache – Institutionen. Berlin: Pädagogischer Verlag, 139–147.
Montanari, E. & Panagiotopoulou, J. (2019). Mehrsprachigkeit und Bildung in Kitas und Schulen. Eine Einführung. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag.
Oomen-Welke, I. (2003). Deutschunterricht in der multikulturellen Gesellschaft. In: Kämper-van den Boogaart, M. (Hrsg.): Deutschdidaktik – Leitfaden für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen, 60–74.
Thöne, C. & Kölling, M. (2023). Translanguaging als Weg zur mehrsprachigen Bildung? Theoretische Grundannahmen und offene Fragen. In: Hack-Cengizalp, E., David-Erb, M. & Corvacho del Toro, I. (Hrsg.): Mehrsprachigkeit und Bildungspraxis. Bielefeld: WBV, 13-31.