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Migration erklärt so wenig. Für eine statistisch eindeutige und separate Erfassung von Migration, Zugehörigkeit und Rassismus

Kommentar von Dr. Linda Supik, FU Berlin

– Einreichung am 28. August 2022 (Anm. der Autorin: Ich danke Norbert Cyrus für die redaktionelle Bearbeitung.)

„Jeder Standard und jede Kategorie wertet einen Standpunkt auf und lässt einen anderen verstummen. Das ist an sich nichts Schlechtes – tatsächlich ist es unausweichlich. Aber es ist eine ethische Entscheidung, und als solche gefährlich – nicht schlecht, sondern gefährlich.“ (Bowker/Star 1999: 5f.)

Einleitung

Die amtliche Statistik zeigt Strukturverhältnisse in der Gesellschaft, sie zeigt Muster, die sonst nicht erkennbar wären. Statistiken und ihre Indikatoren zeigen jedoch, je nach den gewählten Klassifikationen manche Muster besser als andere, und einige gar nicht. Damit sind Klassifikationssysteme der amtlichen Statistik besonders machtvolle sozialen Kategorisierungen. Dies gilt auch für die statistische Kategorie ‚Migrationshintergrund‘. Es geht also darum, wer als was zählen soll, oder welche Personen in welchen Zusammenhängen wie in Statistiken eingehen sollten.

Die RfM-Debatte 2022 ist also nicht lediglich ein weiterer Streit um Begrifflichkeiten, Bezeichnungen und Benennungen im Allgemeinen. In dieser von Anne-Kathrin Will angestoßenen Debatte geht es um die Frage der Einigung auf konzeptionelle Standards und Kategorien, die alle mit amtlichen Statistiken arbeitenden Menschen kennen, verstehen und gleich verwenden und die zugleich einigermaßen anschlussfähig an gebräuchliche Klassfikationen im EU- und UN-Kontext sein sollen. Diese Gesellschaft wird sich weiterhin mehrere parallel existierende verbale Beschreibungen von Gesellschaftstheoretiker:innen leisten, sie wird sich jedoch pro Bundesland nur ein statistisches Landesamt leisten, das mit einem in Statistikgesetzen festgelegten Indikatorenset arbeitet.

Ethik der Klassifizierung

In der eingangs zitierten Aussage weisen die beiden Klassifikationstheoretiker:innen Geoffrey Bowker und Susan Leigh Star auf den ethischen Aspekt des Klassifizierens hin und damit auf die besondere Verantwortung, die mit der Praxis der Klassifizierung  einhergeht. Es ist bedauerlich, dass es der Fachkommission Integrationsfähigkeit nicht gelungen ist, einen einstimmigen Vorschlag vorzulegen, und insbesondere auch einen Komplementärbegriff zu dem der Einwander:in zu entwickeln. Die statistischen Ämter sollten damit nicht allein gelassen werden.

Es geht bei der Debatte um eine Kategorie und ihr Label, in der sich derzeit jede vierte Person in Deutschland befindet. Dabei müssen wir uns noch einmal vergegenwärtigen, worum es geht. Es geht nicht darum, Kategorien zu haben, die für jegliche Forschungsfragen grundsätzlich spannend sein könnten. Vielmehr geht es darum, was die amtliche Statistik leisten soll und leisten kann: Es geht um die Frage, welche statistischen Kategorien wir in diesem Land für die Einschätzung zu Stand und Entwicklung der allgemeinen Wohlfahrt brauchen, und deshalb vom statistischen Bundesamt und den Landesämtern generiert werden sollten. Mit Blick auf die statistische Erfassung der Bevölkerung geht es um die Bestimmung, welche Kategorien von Leuten – Ian Hacking (2007) spricht von „kinds of people“ – man im Land inwiefern unterscheiden können sollte.

Ich möchte mit meinem Beitrag Anne-Kathrin Wills Vorschlag nicht nur unterstützen, sondern bekräftigen, indem ich auf das aus meiner Sicht bisher vernachlässigte, aber so wichtige Argument der Vereinfachung hinweise. Mit einer Umsetzung des Vorschlags würde die statistische Erfassung vereinfacht, konkretisiert und für alle leicht nachvollziehbar. Eine Voraussetzung wäre es aber, Migration, Zugehörigkeit und Rassismus konzeptionell auseinanderzuhalten, zumindest wenn es um die numerische Erfassung und statistische Abbildung geht.

Mir scheint Anne-Kathrin Will teilweise falsch verstanden zu werden. Sie schlägt ja dreierlei Unterscheidungen vor: einerseits die Bevölkerung in a) und b) unterscheiden (im In- und im Ausland geborene), andererseits aber auch in alpha und beta (mit hohem und mit niedrigem rassistischen Diskriminierungsrisiko), sowie nach 1 bis (sagen wir:) 20 (den häufigsten Selbstbezeichnungen natio-ethno-kultureller Gruppen. Es geht also überhaupt nicht um die Ablösung des Migrationshintergrunds, sondern einerseits darum, diesen zu vereinfachen, und zusätzlich, aber ganz unabhängig davon, auch Selbst und Fremdzuschreibung zu erfassen.  Es wird immer Ein- und Auswanderung geben, daher wird es immer nötig sein, Ein- und Auswander:innen zu zählen.

Was die statistische Darstellung von Migration angeht, sollte diese auch deshalb sorgfältig überdacht werden, weil solche Kategorien am Ende alle Menschen betreffen, und sie daher alle verstehen können sollten. Das ist beim real existierenden Migrationshintergrund nicht gelungen. Dieser ist so oft falsch verstanden und angewendet worden, weil er zu kompliziert war. Das ist mein erster Punkt. Mein zweiter Punkt ist der Hinweis, dass Migration und Zugehörigkeit nicht einfach aufeinander bezogen werden können. Als dritten Punkt betrachte ich die statistische Erfassung von Rassismus. Am Beispiel der Schule soll viertens noch einmal daran erinnert werden, dass der Schulerfolg an Bedingungen geknüpft ist, die mit einem Migrationshintergrund nichts zu tun haben. Schließlich mache ich noch einen etwas provokanten Vorschlag für eine Komplementärkategorie zu den ‚Eingewanderten‘.

Es ist zu kompliziert!

Ich halte sehr viel von Anne-Kathrin Wills Vorschlag, Einwander:innen als Einwander:innen zu zählen und fertig. Einer der großen Vorzüge des Vorschlags besteht darin, einfach zu sein. Die Kategorie eingewandert ist allgemein verständlich, eindeutig und alltagstauglich robust. Dies sind wichtige Eigenschaften für eine statistische Kategorie, die in Medien und Alltag viel verwendet wird. Wenn bereits Kindergartenkinder damit gelabelt werden, sollte auch ein Kindergartenkind dem Anderen erklären können, was es heißt, eine Einwanderin zu sein – oder noch besser, es nicht erklären müssen, weil es sich einfach von selbst versteht.

Mit ihrem Impulspapier liefert Anne-Kathrin Will eine bewundernswert tiefenscharfe, präzise und facettenreiche Analyse des Problems. Sie verdeutlicht, wie kompliziert die Diskussion über die Bedeutung und Anwendung des Begriffs Migrationshintergrund geworden ist: die statistische Kategorie Migrationshintergrund wurde mit Bedeutung überladen.

Mir fehlt in der Debatte der Verweis auf ein eigentlich auf der Hand liegendes Argument: Der Migrationshintergrund ist wirklich zu kompliziert. Das Konzept ist eine heillose Überforderung, nicht nur für statistische Laien. Ich habe mit empirischen Sozialforscher:innen und Vertreter:innen von Regierungen und Statistikbehörden in Runden gesessen und stundenlang über den Migrationshintergrund debattiert. Dabei haben selbst Forschende (ich wars nicht) gesagt: „Meine Güte, ist das kompliziert, können Sie die Definition bitte nochmal erläutern?“ Zu dem Zeitpunkt war die Klassifikation bereits zehn Jahre lang im Einsatz.

Anne-Kathrin Wills Vorschlag ist aus meiner Sicht genau deshalb so ausgezeichnet, weil er für Vereinfachung und Klarheit sorgen wird. Damit wird die Datenerhebung entlastet und viele Missverständnisse, mit denen wir derzeit zu kämpfen haben, werden gar nicht mehr entstehen.

Ein Vergleich von Äpfeln mit roten Früchten

Weil die neue Kategorie so kompliziert war, wurde der Wechsel von der Unterscheidung Deutsche/Ausländer zur Unterscheidung „mit“ und „ohne Migrationshintergrund“ von vielen Menschen, einschließlich Migrationsforschenden nie richtig verstanden (für einige Beispiele siehe Kemper/Supik 2020: 61f.). Dass jedoch eine Gegenüberstellung von Deutschen einerseits und Personen mit Migrationshintergrund andererseits so sinnvoll ist wie die Unterscheidung von Äpfeln und roten Früchten, fällt den wenigsten Menschen sofort auf, so sehr haben wir uns an diesen Kategorienfehler gewöhnt. So exklusiv werden diese beiden Kategorien aber immer und immer wieder verwendet, und damit viele Millionen Bürger:innen dieses Staates zu Anderen, Nicht-, oder jedenfalls nicht richtig Zugehörigen gemacht. Vor einiger Zeit musste tatsächlich einmal das Statistische Bundesamt darauf hingewiesen werden, dass Deutsche und Personen mit Migrationshintergrund keine einander ausschließenden Kategorien sind (auch dort hatte sich dieser Kategorienfehler in einen Websitetext eingeschlichen) (siehe ebd.). Eine Öffnung und Bereitschaft zur Inklusion und Integration, die dem deutschen Staat mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts um die Jahrtausendwende gelang, also ein weitgehender Wechsel vom Blut- zum Bodenrecht in Sachen Zugehörigkeitsordnung, wurde mit der schnellen Konzeption des Migrationshintergrunds im Raum der Statistik – wenn auch nicht des Rechts – wieder rückgängig gemacht.

Die Überfrachtung von „Personen mit Migrationshintergrund als Problemgruppe“ hat meines Erachtens damit zu tun, dass sich in der bundesdeutschen Forschungslandschaft sehr lange keine Rassismusforschung im erforderlichen Umfang etablieren konnte. Die RfM-Debatte 2021 im vergangenen Jahr hat das verdeutlicht. Rassismusforschung sollte es nicht geben, darum musste alles in der Migrationsforschung verhandelt werden und irgendwie mit Migration zu tun haben. Einwandererkinder mussten migrantisch bleiben und Migrationshintergrund haben. Der Rassismus, der denjenigen von uns entgegenschlug, die als irgendwie anders wahrgenommen wurden, konnte ja so nicht genannt werden, sondern Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit. Als weiß gelesene brave und akzentfreie Einwanderertöchter wie ich fielen da nicht auf und konnten unerkannt davonkommen.

Irgendwas mit Migration

Ludger Pries schlägt in seinem Beitrag zu dieser Debatte eine Abänderung des Ausdrucks Migrationshintergrund zu Migrationsgeschichte vor, ohne dafür irgendwelche Argumente anzuführen – und wenn ich es richtig sehe, geht er auf die kategoriale Abgrenzung gar nicht ein. Daher bleibt es offen, wozu ein solcher Labelaustausch gut sein sollte. Ich sehe darin keine Verbesserung, sondern eine Fortsetzung der Verwirrung (wie Will schreibt). Der Ausdruck wird beispielsweise in Nordrhein-Westfalen derzeit bereits in eben dieser Bedeutung verwendet, hingegen im Berliner Partizipationsgesetz in einer anderen, neuen, von „Migrationshintergrund“ verschiedenen Bedeutung. Da sind fortgesetzte Missverständnisse im Föderalismus weiterhin vorprogrammiert. Von „Irgendwas mit Migration“ scheint diese Debatte auf der Suche nach Begrifflichkeiten nicht wegzukommen. Einer der traurigen Höhepunkte der derzeitigen migrantologischen Wucherung und Überschreibung einer Rassismusdebatte besteht in meiner Sicht in den Formulierungen „sichtbarer Migrationshintergrund“, oder auch „zugeschriebener Migrationshintergrund“ (siehe Berliner PartIntG). Hier sind Migrantisierung und Rassifizierung wirklich nicht mehr unterscheidbar.

Migration – zurück zum Kern der Bedeutung

Joshua Kwesi Aikins bezeichnet die Überbetonung des Ortswechsels als „Migrationismus“ (Aikins/Supik 2018: 99), Bojadžijev und Römhild problematisieren hier ganz ähnlich die Migrantologie (Bojadžijev/Römhild 2014: 10), und Erol Yildiz‘ (2021) Kritik am methodischen Migrantismus hat ebenfalls diese Zielrichtung.

Migration – daran sei hier ausdrücklich erinnert – ist nur eine Kategorie der Bewegung, des Ortwechsels. Nichts weiter. Eine Einwander:in ist eine Person, die jetzt hier lebt und vorher woanders gelebt hat. Einwander:innen sind noch keine Staatsbürger:innen, sie sind noch keine Aufenthaltsberechtigten. Sie sind einfach da. Nicht mehr und nicht weniger. Thomas Kemper wendet in seinem Beitrag zu dieser Debatte ein, es sei zynisch, eine aufenthaltsrechtlich lediglich geduldete Person als Einwander:in zu bezeichnen. Ich verstehe diese Aussage als Indiz, dass der Ausdruck Einwander:in derzeit eher positiv konnotiert ist.

Dieses Wort Migration – die Wanderung über eine (oder mehrere) Grenzen hinweg – wurde nicht nur in der Migrationsforschung mit der Schaffung des Konstrukts Migrationshintergrund mit zusätzlichen Bedeutungen überfrachtet. Der Migrationshintergrund verweist gleichzeitig auf eine Familiengeschichte, einen Grenzübertritt und eine Zugehörigkeit, wobei im Sinne eines angeblich fürsorglichen Verdachts Migrationshintergrund mit defizitärer Integration verbunden ist. Ob Migrant:innen aber Probleme haben oder bereiten, hängt mit allen möglichen Dingen zusammen, aber am wenigsten mit dem eigentlichen Ortswechsel. Der Geburtsort einer Person sagt nichts über ihre Sprachkompetenz, diese muss unabhängig erhoben werden. Der Geburtsort sagt nichts über ihre beruflichen Qualifikationen, diese werden unabhängig erhoben.

Migration bedeutet nicht Zugehörigkeit

Es ist keine gute Idee, Menschen, aufgrund der Staatsangehörigkeit mindestens eines Elternteils bei dessen Geburt, von vorn herein als nicht oder weniger zugehörig zu markieren. Ludger Pries scheint mir genau dies zu tun, wenn er bereits in der Überschrift seines Beitrags die Zugehörigkeit in den Mittelpunkt stellt. „Migration“ oder das migriert sein von Vorfahren ist in einer Einwanderungsgesellschaft kein Zugehörigkeitskriterium. In dieser Engführung wirkt eine rassistische Abstammungslogik: Nur wer auch rein deutscher Abstammung ist, ist richtig in Deutschland zugehörig, wer eingewanderte Elternteile hat ist es eben nicht. Egal ob die Person den deutschen Pass bei Geburt erhielt, Deutsch spricht und träumt, im Schrebergartenvorstand und der Elternpflegschaft mitwirkt oder was auch immer.

Ludger Pries hat recht in dem Punkt, dass die Kategorie Migrationshintergrund gegenüber der Deutsche/Ausländer Sortierung die bereits viel weiter reichende Diversifizierung der Gesellschaft sichtbar machte, und damit erfahrbar macht als etwas, an das man sich auch gewöhnen konnte; aber dies geschah um den Preis der Besonderung eines weitaus größeren Bevölkerungsteils als zuvor – indem auch die Ausländernachkommen wieder in die zur Beobachtung markierte Kategorie zurückgeholt wurden, aus der sie durch Einbürgerungen einfach so verschwanden. Als Effekt von Einbürgerung verschwanden sie „vom Radar“, was integrationspolitisch absolut wünschenswert war.

Wer über Zugehörigkeit, Mitgliedschaft, Rechte und Pflichten sprechen und Personen danach unterscheiden will; der sollte sich bitte mit Staatsangehörigkeit befassen. Staatsangehörigkeit steht hier gerade jedoch überhaupt nicht zur Diskussion. Es gibt eine wichtige, große internationale Debatte um Citizenship, Bürgerrechte, Bürgerschaft, Belonging – um die geht es hier nicht. (Ich unternehme hier einmal eine schärfere Abgrenzung, um meinen Punkt klar zu machen, natürlich gibt es Verbindungen). Die Staatsangehörigkeit ist eine rechtliche und eine statistische Kategorie, und selbstverständlich wird sie weiter im Rahmen des Mikrozensus erhoben werden. Bei Migration – und dem hoffentlich bald ad acta gelegten Migrationshintergrund – geht es gar nicht um Rechte, es ist nur eine statistische Kategorie: Einen Migrationshintergrund zu haben oder nicht, geht für niemanden mit Rechten oder Pflichten einher!

Migration bedeutet auch nicht Rassismus

Die Debatte um die Messung von Rassismus und rassifizierenden Zuschreibungen wurde hier mit der Erfassung eines Migrationshintergrundes verbunden, und sie ist es ja auch in vielerlei Hinsicht – aber es geht wiederum um andere statistische Indikatoren.

Auch all wir alteingesessenen Einwandererkinder und -enkel der postmigrantischen Gesellschaft bleiben unterschiedlich und, wie Paul Mecheril es nennt, in unterschiedlichem Maß und Weise rassistisch diskreditierbar. Manche von uns sind in der strukturell rassistischen Gesellschaft privilegiert, manche benachteiligt. Wenn ich nun also vorschlage, Leute wie mich – zweite Generation Einwanderer, Einwandererkinder – nicht mehr als solche statistisch zu erfassen, sondern als – naja, Eingeborene zum Beispiel, was ist dann mit denen von uns, die von Rassismus betroffen und benachteiligt sind? Und was ist mit Sinti:zze und jüdischen Menschen, deren Familien und Vorfahren länger hier leben als es eine Idee von Deutschland gibt, und die fortdauernd von Rassismus und Antisemitismus betroffen sind?

Hier braucht es also – abgesehen von einer klareren, eindeutigeren, weniger fehleranfälligen statistischen Erfassung von Migration – aber völlig unabhängig davon – eine Erfassung von rassistischem Diskriminierungsrisiko. Damit wären wir beim Thema Antidiskriminierungsdaten.

Um Diskriminierung und strukturellen Rassismus bekämpfen zu können, um statistische Nachweise für Diskriminierung vor Gericht vorlegen zu können, ist nicht der Geburtsort einer Person entscheidend. Vielmehr geht es um die Wahrnehmung von Menschen als „typisch, normal, von hier, deutsch“ oder als „irgendwie fremd, bestimmt Ausländer, nicht von hier“. Einzelne oder auch institutionell eingelassene rassistisch diskriminierende Handlungen oder Praxen beinhalten ein von Vorannahmen geprägtes, oberflächliches Ein- oder Aussortieren von Leuten – Rassifizierungen. Als Einwanderertochter gehe zum Beispiel ich ganz entspannt als Mehrheitsdeutsche durch, ich werde als weiß rassifiziert. Als einmal eine Arbeitskollegin meinem Vater begegnet war, sagte sie anschließend zu mir: „Dass Du einen Vater hast, der so einen starken Akzent hat, hätte ich nicht gedacht!“ Dieses Erstaunen belegt zum einen mein erfolgreiches Passen. Mit anderen Worten sagt sie „Ich sehe dich als weiß/deutsch, aber jetzt wo ich Deinen Vater sprechen höre merke ich, du bist ja gar nicht von hier!“ Dies ist quasi das Gegenstück zu dem vermeintlichen Kompliment „Du sprichst aber gut Deutsch!“ gegenüber einer Deutschen of Colour. 

Rassifizierung erheben

Damit begegnen wir dem Gespenst der „Rasse“ und kommen nicht richtig daran vorbei. Ist das nun „Rasse“, was und wonach Antidiskriminierungsdaten sortieren? Wenn wir diese Daten über die Frage nach selbst wahrgenommener Fremdzuschreibung erheben, dann ist „Rasse“ eben diese Fremdzuschreibung, die als Rassifizierung erhoben wird. Merih Ateş hat für diese Debatte sehr gut ausbuchstabiert, weshalb die beiden Aspekte – sowohl Selbst- wie auch Fremdbild – der Diskriminierungsdimension ethnische Herkunft/Rassifizierung erhoben werden sollten: Die kombinierte Doppelfrage signalisiert bereits in der Befragungssituation, dass hier keine „Rassedaten“ über eine vermeintlich wesenhafte essentiell-biologische Wahrheit produziert werden sollen, sondern über verschiedene Aspekte einer sozial, das heißt in Aushandlungen zwischen Menschen im Lauf der Geschichte hergestellten Bedeutung von Rasse/Ethnizität, in die stets Identitäts- und Zuschreibungsaspekte eingeschrieben sind (Supik 2005). Die Liste der deutschsprachigen und internationalen Rassismustheoretiker:innen, die diese von Merih Ateş nochmals geforderte theoretische Herleitung bereits erbracht haben, wäre lang.

Die beiden Aspekte der Identität/Selbstbeschreibung und der selbstwahrgenommenen Zuschreibung lassen sich für die statistische Kategorienbildung und Quantifizierung nun ganz gezielt operationalisieren und verwenden. Das ist der zurzeit am meisten diskutierte Ansatz für die Erhebung von Antidiskriminierungsdaten. Surveyfragen würden dann lauten: „Wie sehen sie sich selbst?“ und „Wie sehen andere sie üblicherweise?“ Dafür müssten jeweils – zumindest mittelfristig – Antwortkategorien vorgegeben werden, denn eine lange Liste unterschiedlichster offener Antworten wäre statistisch nicht handhabbar.

Was die Selbstbezeichnung von Menschen hinsichtlich ihrer natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit oder Identität anbelangt, so würden die wenigsten Menschen darauf in einem Wort antworten, sondern längere Geschichten ihrer Selbstverortung erzählen. Darum sind hier Kompromisse, solidarische Übereinkünfte und pragmatische Einigungen gefragt. So wie z.B. im Fall der europäischen Minderheiten, die sich 1971 in London auf einem Kongress zusammenfanden und vereinbarten, gemeinsam unter dem Namen Roma ihre Interessen zu vertreten. Viele weitere Selbstbezeichnungen und Namen der verschiedenen Communities bestehen natürlich weiter. Beschämenderweise, so denke ich, verfügen wir in Deutschland gar nicht über das Wissen, welche natio-ethno-kulturellen Selbstbezeichnungen von Minderheiten (autochthone wie eingewanderte) die (sagen wir) 20 verbreitetsten sind, die auf einem Fragebogen Platz finden können. Noch hat sich niemand die Mühe gemacht, dies einmal bundesweit zu erfragen. Für eine Kategorie Kurd:innen als Selbstbezeichnung, wie Merih Ateş und viele andere sie fordern, könnte Platz sein, oder auch nicht. Jedenfalls müsste stets ein offenes Eintragfeld angeboten werden, so dass keine Person etwas ankreuzen müsste, was ihr widerstrebt.

Wichtig ist auch Merih Ateş Hinweis auf Nancy Kriegers aktuelles Paper zum Nutzen und Risiko von race data im Kontext der COVID-19 Pandemie. Hier können wir nur zustimmen: Die Verfügbarkeit von treffenderen Daten zur Beobachtung des Ausmaßes von strukturellem Rassismus bedeutet noch nicht, dass diese Daten dann auch verwendet werden, und dass diese angemessen verwendet werden, und nicht missbräuchlich. Genau aus diesem Grund haben ja deutsche und europäische zivilgesellschaftliche Organisationen bereits Standards für die Erhebung von und Berichterstattung mit Antidiskriminierungsdaten formuliert. (Chopin u.a. 2014; Gyamerah/Wagner 2017; Weiß 2018; Baumann u.a. 2018; Supik im Erscheinen).

Apropos Schule und Schulkinder

Vielleicht gibt es Argumente, zu den Eingewanderten auch ihre hier geborenen minderjährigen Schulkinder zu zählen, solange diese bei den Eltern leben. Bei diesem Punkt bin ich mir schlicht noch nicht sicher. Es ist für das Schulsystem in Deutschland aber uralte Normalität, dass Kinder aus anderssprachigen Familien – die zuhause schwäbisch schwätze, platt küre oder hessisch babble – sowie zunehmend mehrsprachigen Familien – mit kurdisch, türkisch, arabisch, polnisch, farsi, amharisch und vielen anderen Sprachen – kompetent und diskriminierungsfrei beschult werden. Dieses System geht mit dieser Normalität ganz selbstverständlich um. All diesen multi- und monolingualen Kindern wird die bestmögliche Bildung geboten. Oder beschreibt das etwa nicht den Status Quo im Bildungswesen?

Wenn das Versprechen auf Bildungsgerechtigkeit noch nicht eingelöst wird, dann liegt das selbstverständlich nicht an der Vielfältigkeit der Schülerschaft, mit der dieses System seit langem zu tun hat, sondern am Bildungssystem selbst. Anne-Kathrin Will fragt zu Recht: „Bei den Nachkommen Eingewanderter stellt sich hingegen die Frage, ob überhaupt von ‚Integration‘ gesprochen werden darf oder immer von Diskriminierung gesprochen werden muss.“ Ich denke, das Thema der Bildungsbenachteiligung bedarf dringend der Entmigrantisierung. In wie vielen Fällen von geringem Bildungserfolg handelt es sich tatsächlich um die vermeintlichen Folgen mangelnder Integration- Geht es aber nicht vielmehr um eine auf Dauer gestellte Prekarität und Armut? Die Bildungsstatistik ermöglicht es derzeit nicht, Einkommen und Bildungstitel der Eltern zu erheben, denn Datenerhebung über Dritte ist nicht erlaubt. Wäre es nicht lohnend, eine Ausnahme von dieser Datenschutzregelung bezüglich der Erziehungsberechtigten von Kindern und Jugendlichen zu machen? Denn hier lenkt die schlichte Verfügbarkeit einer Information zum Migrationshintergrund und das Fehlen sozioökonomischer Informationen von dem Blick auf die soziale Herkunft ab. So entsteht auch ganz systematisch eine verzerrte Wahrnehmung und irreführende statistische Repräsentation, ein Zuviel an Beachtung des „Migrationshintergrunds“ und Zuwenig an Beachtung der sozioökonomischen Klassenlage.

Zum Schluss

Erol Yildiz hat recht, den Migrationshintergrund einmal gründlich zu entrümpeln und auf die einfache Sortieraufgabe, die eine Kategorien hat, zurückzustutzen (eingewandert? ja/nein), hilft noch keinen Deut gegen Rassismus und Diskriminierung – obwohl, doch, denn es baut ja einen innerstatistischen Otheringvorgang zurück, der dann immerhin schon mal nicht mehr stattfinden würde. Kinder von Eingewanderten wären dann einfach nur noch deutsche Bürgerinnen mit irgendwas im Hintergrund, von dem sie dir vielleicht einmal was erzählen, wenn du nett fragst, vielleicht aber auch nicht.

Übrigens, da so viel klarer ist, was Einwander:innen sind, als Personen mit Migrationshintergrund, liegt hier auch der Gegenbegriff auf der Hand: Eingeborene. Erol Yildiz‘ Vorschlag „einheimisch“ vs. „mehrheimisch“ mit dem Heim und der Heimat im Kern ist doch wieder ein Zugehörigkeitswort. Der Begriff Eingeborene ist nun natürlich kolonialrassistisch konnotiert, aber vom Wortsinn passt er perfekt. Das ist jetzt vielleicht eine Denkübung: wir nehmen diesen Ausdruck Eingeborene, der in kolonialrassistischer Phantasie für sogenannte Wilde steht, und bezeichnen unser Wir damit. Auch so lässt sich sicher ein Ausdruck umwerten, ich bin ganz zuversichtlich.  

Wir kommen nicht mit nur einer Unterscheidung hin. Nach Staatsangehörigkeit zu unterscheiden ist relevant, zum Beispiel um zu zeigen, wie viele Menschen in diesem Land wählen dürfen. Nach Geburtsort zu unterscheiden ist relevant. Nach Diskriminierungsrisiko zu unterscheiden ist relevant. Zumindest beim Zählen sollten wir aber das eine einigermaßen mit dem anderen auseinanderhalten.

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Literatur 

Aikins, Joshua Kwesi und Linda Supik (2018): Gleichstellungsdaten – Differenzierte Erfassung als Grundlage für menschen-rechtsbasierte Antidiskriminierungspolitik. In: Naika Foroutan, Juliane Karakayali, Riem Spielhaus (Hg.) 2018: Postmigrantische Perspektiven. Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik. Frankfurt a.M., 97-112.

Baumann, AL; Egenberger V & Supik L (2018). Erhebung von Antidiskriminierungsdaten in Deutschland. Bestandsaufnahme und Entwicklungsmöglichkeiten von Wiederholungsbefragungen. Expertise für die Antidiskriminierungsstelle des Bundes. http://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ThemenUndForschung/Forschung/laufende_Forschung/laufende_Forschung_node.html

Bojadžijev, Manuela und Regina Römhild (2014): Was kommt nach dem „transnational turn“? Perspektiven für eine kritische Migrationsforschung. In: Labor Migration (Hg.): Vom Rand ins Zentrum: Perspektiven einer kritischen Migrationsforschung. Berliner Blätter: ethnographische und ethnologische Beiträge. Ausgabe 65.

Bowker, Geoffrey C. und Susan Leigh Star (1999): Sorting Things Out. Classification and its consequences. Cambridge, Mass.: MIT Press.

Chopin, I, L. Farkas & C. Germaine (2014). Policy Report. Equality Data Initiative. Ethnic origin and disability data collection in Europe. Measuring inequality – combating discrimination, Open Society Foundations, Brussels, 14.4.2017, https://www.opensocietyfoundations.org/publications/ethnic-origin-and-disability-data-collection-europe-measuring-inequality-combating .

Gyamerah, Daniel/Wagner, Lucienne (2018): Zur gesellschaftspolitischen Bedeutung von Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten. In: neue deutsche organisationen (Hrsg.): Gleich ≠ Gleich. Gleichstellungsdaten im Gespräch. Berlin.

Hacking, Ian 2007: Kinds of people: Moving Targets. In: Proceedings of the British Academy 151, 285-318.

Kemper, Thomas und Linda Supik (2020): Migrations- und sprachbezogene Klassifikationen von Schule, Bildungsstatistik und -forschung In: Juliane Karakayalı (Hg.): Unterscheiden und Trennen. Die Herstellung von natio-ethno-kultureller Differenz und Segregation in der Schule. Beltz.

Weiß, Jane (2018): Von Empfehlungen zu Standards in der Forschung zu und mit Sinti und Roma. Inputvortrag Geschlossene Fachveranstaltung Datenerhebung von Antiziganismus, Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten. Zentralrat Deutscher Sinti und Roma.

Supik, Linda (im Druck) Statistik und Diskriminierung. In Albert Scherr, Aladin El-Mafaalani und Anna-Cornelia Reinhardt: Handbuch Diskriminierung. Zweite überarbeitete Auflage. Springer VS.

Supik, Linda (2005): Dezentrierte Positionierung. Stuart Halls Konzept der Identitätspolitiken. Bielefeld, transcript.

Yildiz, Erol (2021): Das Postmigrantische und das Politische. Eine neue Kartographie des Möglichen. In: Lisa Gensluckner/Michaela Ralser/Oscar Thomas-Olalde/Erol Yildiz (Hg.): Die Wirklichkeit lesen. Political Literacy und politische Bildung in der Migrationsgesellschaft (postmigrantische Studien Band 7). Bielefeld, S. 21-42.