Kommentar von Dr. Coşkun Canan und Anja Petschel, Statistisches Bundesamt¹
– Einreichung am 09. September 2022
Statistische Kategorien dienen keinem Selbstzweck, sondern immer einem spezifischen Erkenntnisinteresse. Dieses kann je nach dem gewählten Kontext sehr unterschiedlich aussehen und ebenso können auch die statistischen Kategorien selbst veränderlich sein und sich im gesellschaftlichen Diskurs weiterentwickeln. Zur Weiterentwicklung des Begriffs und Konzepts Migrationshintergrund hat die Fachkommission Integrationsfähigkeit (IF) (2021) mit ihrem Vorschlag für eine Neudefinition einen bedeutenden Beitrag geleistet, der die öffentliche Diskussion der vergangenen Jahre aufgreift. Sie schlägt die statistische Erfassung von Eingewanderten und ihren Nachkommen auf der Basis der Wanderungserfahrungen von Befragten und ihren Eltern vor. So sollen zu den Eingewanderten und ihren direkten Nachkommen die Personen gehören, die selbst nach 1950 auf das heutige Staatsgebiet Deutschlands eingewandert sind sowie Personen, die in Deutschland geboren wurden, bei denen aber beide Elternteile seit 1950 nach Deutschland eingewandert sind. Die Betrachtung der sogenannten zweiten Generation wird von den Mitgliedern der Fachkommission IF damit mehrheitlich befürwortet. Es ist wichtig, empirische Daten im Themenfeld von Migration und Integration umfassend zu erheben, um eine fundierte Informations- und Diskussionsgrundlage zu schaffen und unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen differenziert abbilden zu können. Das Statistische Bundesamt arbeitet daher derzeit an der Umsetzung des Vorschlags der Fachkommission IF im Rahmen einer zusätzlichen Veröffentlichung auf Basis des Mikrozensus, um mit konkreten Vergleichsdaten für die Debatte um eine Neudefinition des Migrationshintergrundes eine stärkere empirische Basis zur Verfügung zu stellen.
Zur Bedeutung der Erfassung der zweiten Generation
Der abweichende Gegenvorschlag von Anne-Kathrin Will, nur die selbst Eingewanderten zu erfassen, der auch bereits von Barbara John in ihrer abweichenden Stellungnahme zum Votum der Fachkommission IF vorgeschlagen wird, greift unseres Erachtens inhaltlich zu kurz. Eine Beschränkung der Berichterstattung auf die selbst Eingewanderten würde zu einer Reduktion an Informationen und das Ziel verfehlen, möglichst differenzierte Daten für die Bevölkerung mit und ohne Migrationsbezug bereitzustellen, um zum einen die migrationsbedingte Diversität der Gesellschaft darstellen und zum anderen vielfältige Daten- und Informationsbedarfe der Politik, Wissenschaft, von Interessenverbänden und der breiten Öffentlichkeit zu den sozialen Lebenslagen jener Menschen mit Migrationsbezug abdecken zu können. Aus diesen Gründen halten wir eine Erfassung und separate Darstellung der direkten Nachkommen von Eingewanderten (zweite Generation) im Mikrozensus für fachlich geboten.
Dass Eingewanderte hinsichtlich Sozialisation und Teilhabe in der (Einwanderungs-) Gesellschaft andere Voraussetzungen haben als ihre Nachkommen ist unbestreitbar und ist nicht nur ein Gegenstand der Migrations- und Integrationsforschung, sondern auch wichtiger Aspekt der Migrations- und Integrationspolitik. Je nach Generationenzugehörigkeit können sich die Bedingungen vor allem beim Spracherwerb, bei der Einbürgerung oder beim Zugang in den Arbeitsmarkt deutlich unterscheiden. Eingewanderte und ihre Nachkommen weisen jedoch neben solchen intergenerationalen Unterschieden auch Unterschiede in ihren Teilhabebedingungen im Vergleich zu Menschen auf, die keine familiäre Einwanderungsgeschichte haben. Dort, wo diese unterschiedlichen Bedingungen nicht gesehen werden, können auch die daraus folgenden und notwendigen Maßnahmen für gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nicht erkannt werden, so dass es zu maßgeblichen Benachteiligungen von Eingewanderten und ihren Kindern, z.B. im Bildungssystem und/ oder auf dem Arbeitsmarkt kommen kann. Ferner führen Diskriminierungen zu Benachteiligungen oder sie verschärfen vorhandene Benachteiligungen weiter. Sie bremsen Eingewanderte und ihre Nachkommen in ihren Teilhabebemühungen nicht nur aus, sondern unterhöhlen sowohl als richtig und wichtig erkannte Teilhabe fördernde Maßnahmen als auch das darüberhinausgehende Versprechen der demokratischen Gesellschaft von gleichberechtigter Teilhabe (Foroutan 2019).
Wie Ludger Pries in seinem Beitrag im Rahmen der RfM-Debatte anmerkt, ist es vor diesem Hintergrund unverzichtbar, dass die amtliche Statistik Migrationsereignisse im intergenerationalen Verlauf misst, um systematische Benachteiligungen und Förderbedarfe sichtbar zu machen. Eine Verengung der Erfassung von Menschen mit Einwanderungsgeschichte auf Eingewanderte macht uns gleichsam blind für einen Teil der migrations- und diskriminierungsbedingten sozial-strukturellen Ungleichheiten, beseitigt diese Ungleichheiten aber nicht (vgl. Haller et al. 2011).
Migrationshintergrund als Proxy für Diskriminierung und mangelnde Alternativen
Der Migrationshintergrund ist nicht geeignet, Diskriminierung zu messen. Dies war aber auch nie das Ziel bzw. der Anspruch dieser Kategorie. Mit der Einführung der Kategorie Migrationshintergrund im Mikrozensus 2005 wurde vielmehr beabsichtigt, zum einen die Vielfalt der unterschiedlichen Menschen mit Migrationsbezug differenzierter sichtbar zu machen als lediglich – wie bis dato üblich – zwischen ausländischen und deutschen Staatsangehörigen zu unterscheiden. Zum anderen sollten Integrationsverläufe, insbesondere von Eingebürgerten und (Spät-) Aussiedler:innen besser analysiert werden können.
Die Kategorie Migrationshintergrund wird vielmehr mangels geeigneter Alternativen für antidiskriminierungsbezogene Fragestellungen seitens der Wissenschaft als Proxy verwendet, ist für diese aber kaum geeignet. Dagegen ist der Migrationshintergrund sehr wohl geeignet, in Kombination mit anderen sozio-demografischen Daten aufzuzeigen, wo Ungleichheiten zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen bestehen. Eine Analyse der Gründe für diese Ungleichheiten bedarf der Betrachtung einer Vielzahl unterschiedlicher Einflussfaktoren, wozu auch Diskriminierung zählen kann.
Herausforderungen in der Erfassung von Antidiskriminierungsdaten
Die Annahme Wills, die Einwanderung von Vorfahren sei „für sich genommen nicht benachteiligend, sondern nur dann, wenn sie ethnisiert oder rassifiziert ist“, müsste erst genauer dargelegt werden. Denn eingewanderte Vorfahren bringen unterschiedliche Kapitalien mit und bilden ihre sozialen Netzwerke und Communities in der (Einwanderungs-) Gesellschaft unter unterschiedlichen Bedingungen; diese Netzwerke und Communities können später die Nachkommen ein Leben lang prägen (Portes & Rumbaut 2001).
Wills Forderung, „Ethnisierungen und Rassifizierungen direkt zu erfassen“, ist ein interessanter Gedanke, der allerdings sowohl historisch als auch methodisch bedingte Bedenken hervorruft. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges werden in der Bundesrepublik Deutschland seitens der amtlichen Bevölkerungsstatistik generell keine bevölkerungsstatistischen und sozioökonomischen Daten auf Basis „ethnischer Herkunft“ erhoben. Hintergrund dessen ist unter anderem die Verfolgung solcher Minderheiten während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Dieselbe Sensibilität sollte entsprechend auch der Erhebung von Daten zu den Diskriminierungsdimensionen Ethnisierung und Rassifizierung zugrunde gelegt werden. Die Erhebung solcher Daten bedarf vor dem Hintergrund des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung der besonderen Rechtfertigung. Zudem müssen Anschein und Gefahr jeglichen Missbrauchs der Daten verhindert werden, insbesondere, wenn über die Erhebung solcher Informationen von Seiten des Staates diskutiert wird. Die Verarbeitung solcher besonders sensiblen personenbezogenen Daten ist seit 2018 durch §9 der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) und zuvor seit 1995 durch die EU-Richtlinie 95/46/EG streng geregelt und nur in speziellen Ausnahmefällen oder mit ausdrücklicher Zustimmung der Befragten erlaubt. Die Verpflichtung aller Datenerhebenden, – auswertenden und -nutzenden Stellen zum Prinzip der Nicht-Schädigung, wie von Ahyoud et al. (2018) vorgeschlagen, ist daher essentiell für die Erhebung von Antidiskriminierungsdaten. Baumann et al. (2019) ergänzen ferner, dass die Anonymisierung der Daten sowie die Einbindung der Interessenverbände und migrantischen Nichtregierungsorganisation in die Entwicklung geeigneter Instrumente unbedingt beachtet werden sollten.
Die Erfassung von Antidiskriminierungsdaten ist darüber hinaus methodisch sehr komplex und mit einigen Herausforderungen verbunden. Die Entwicklung von zuverlässigen Messmethoden zur Erfassung der Diskrimierungsdimensionen Ethnisierung und Rassifizierung steht in Deutschland noch am Anfang. Die Erfassung dieser Konstrukte allein über subjektive Wahrnehmungen wie selbstwahrgenommene Fremdzuschreibungen birgt außerdem das Risiko einer Untererfassung, u.a. da Diskriminierungen oder Fremdzuschreibungen von den Betroffenen nicht immer gesehen werden (können) (z.B. Crandall and Eshleman 2003).
Die Erhebung von Informationen auf freiwilliger Basis kann schließlich zu Verzerrungen bzw. einem Bias führen, wenn nur bestimmte Personen bereit sind, entsprechende Auskünfte zu geben. Weitere Herausforderungen der Erhebung von Selbstauskünften sind zudem die Subjektivität der Aussagen und damit einhergehend die Frage, wie durch eine geeignete Methodenwahl eine möglichst hohe Vergleichbarkeit erreicht werden kann. Die genannten Einschränkungen gilt es hinsichtlich der Datenqualität zu beachten und durch ein intelligentes Design zu minimieren.
Fazit
Die vorgeschlagene Neudefinition der Fachkommission IF ermöglicht eine begriffliche und konzeptuelle Weiterentwicklung in der statistischen Darstellung von Migration und Integration. Die Abkopplung der Staatsangehörigkeit von der Wanderungserfahrung und die klare Generationenzuordnung durch die Neudefinition sind geeignet, die sozio-ökonomischen Verhältnisse von Eingewanderten und ihren Nachkommen besser zu beschreiben. Die Erfassung der ersten beiden Generationen ist dabei von zentraler Bedeutung, um mögliche systematische Benachteiligungen aber auch intergenerationale Erfolge in den Integrationsverläufen sichtbar zu machen und gegebenenfalls Teilhabe fördernde Maßnahmen (weiter) zu entwickeln und zu evaluieren. Die für den Mikrozensus geplante Veröffentlichung erster Vergleichszahlen auf Basis der Empfehlungen der Fachkommission IF zur Neudefinition des Migrationshintergrundes soll dazu beitragen, die Debatte um die Definition des Migrationshintergrundes auch stärker empirisch zu führen.
So wird zum Beispiel auch diskutiert, ob in Deutschland geborene Menschen mit einseitiger elterlicher Wanderungserfahrung, anders als die Fachkommission IF es vorschlägt, weiterhin zu den Nachkommen von Eingewanderten gezählt werden sollten (siehe hierzu Vorschlag der BKMO 2021 für eine Definition im Rahmen eines Entwurfs für ein Bundespartizipationsgesetz). Die Daten des Mikrozensus könnten hierbei weiterhin ergänzend genutzt werden, um im Rahmen weiterführender Analysen Personen mit einseitiger elterlicher Wanderungserfahrung mit Personen mit und ohne Migrationsgeschichte zu vergleichen.
Der von Anne-Kathrin Will eingebrachte Vorschlag einer weiteren Verengung der Definition, nach dem lediglich die selbst Eingewanderten betrachtet und die zweite Generation nicht mehr ausgewiesen wird, ist aus unserer Sicht hingegen fachlich für eine differenzierte Berichterstattung nicht geeignet. Zudem könnte die dadurch entstehende Daten- bzw. Informationslücke auch durch die vorgeschlagene direkte Messung der Diskriminierungsdimensionen Ethnisierung und Rassifizierung z.B. über die selbstwahrgenommene Fremdzuschreibung aus unserer Sicht nicht geschlossen werden. Gründe hierfür sind zum einen das Fehlen zuverlässiger Messinstrumente zur Erfassung jener Konstrukte und zum anderen würden unterschiedliche migrationsbedingte sozial-strukturelle Bedingungen dadurch ausgeblendet. Um die Methoden zur Messung von Antidiskriminierungsdaten zukünftig weiterzuentwickeln, empfiehlt es sich Migrant:innenselbstorganisationen, -vereine und -verbände bei dem Design von Erhebungen zu diesem Thema nicht nur einzubeziehen, sondern auch zu unterstützen, diese selbstständig durchzuführen. So könnten, idealerweise in Kombination mit wissenschaftlich-methodischer Expertise seitens der Migrations- und Integrationsforschung, neue Erhebungsinstrumente im Bereich der Antidiskriminierungsdaten entwickelt und getestet werden (wie dies bereits beim Afrozensus erfolgt ist (Aikins et al. 2021)).
Insgesamt hat die Debatte über Begriff und Definition des Migrationshintergrundes uns bisher vor allem die Vielfalt der Datenbedarfe gezeigt. Der durch die Arbeit der Fachkommission angestoßene breite wissenschaftliche Diskurs kann dazu beitragen, zukünftig allgemein akzeptierte Kategorien und Erhebungsmethoden zu finden und eine stärkere Harmonisierung der Definitionen zu erreichen. Für die weitere Diskussion sind aus unserer Sicht Daten entscheidend, um die bisherigen theoretischen Debatten um die Weiterentwicklung der Definition des Migrationshintergrundes auch stärker empirisch unterfüttern zu können. Der Mikrozensus greift hierfür den Vorschlag der Fachkommission IF für eine Neudefinition auf und schafft so eine neue empirische Basis für die Diskussion um die Weiterentwicklung der statistischen Kategorie, die möglichst viele unterschiedliche Informationsbedarfe abdecken soll.
¹Anja Petschel ist Referentin und Coşkun Canan wissenschaftlicher Mitarbeiter im Referat „Bevölkerungsstatistische Auswertungen und Analysen aus dem Mikrozensus“. Sie arbeiten derzeit an einer Umsetzung des Vorschlags der Fachkommission Integrationsfähigkeit zur Neudefinition des Migrationshintergrundes mit Daten des Mikrozensus. Die Einschätzungen in diesem Diskussionsbeitrag sind die der Autorin und des Autors und entsprechen nicht notwendigerweise der Position des Statistischen Bundesamts.
Literatur
Aikins, M. A., Bremberger, T., Aikins, J. K., Gyamerah, D., & Yildirim-Caligman, D. (2021). Afrozensus 2020: Perspektiven, Anti-Schwarze Rassismuserfahrungen und Engagement Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen in Deutschland. http://www.afrozensus.de (zugegriffen am 24.08.2022).
Ahyoud, N., Aikins, J. K., Bartsch, S., Bechert, N., Gyamerah, D., & Wagner, L. (2018). Wer nicht gezählt wird, zählt nicht: Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten in der Einwanderungsgesellschaft – eine anwendungsorientierte Einführung. Berlin: Citizens for Europe. https://www.kiwit.org/media/material-downloads/antidiskriminierungs_-_gleichstellungsdaten_-_einfuehrung.pdf (zugegriffen am 16.08.2022).
Baumann, A.-L., Egenberger, V., & Supik, L. (2019). Erhebung von Antidiskriminierungsdaten in repräsentativen Wiederholungsbefragungen. Bestandsaufnahme und Entwicklungsmöglichkeiten. Hg. v. Antidiskriminierungsstelle des Bundes. https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Expertisen/erhebung_von_antidiskr_daten_in_repr_wiederholungsbefragungen.pdf (zugegriffen am 24.08.2022).
Bundeskonferenz der Migrant:innenorganisationen (BKMO). (2021). Entwurf des Gesetzes zur Förderung von Teilhabe und Partizipation und zur Bekämpfung der rassistischen Diskriminierung (Bundespartizipationsgesetz). https://bundeskonferenz-mo.de/wp-content/uploads/2021/08/Gesetzentwurf-Bundespartizipationsgesetz.pdf (zugegriffen am 25.08.2022).
Crandall, C. S., & Eshleman, A. (2003). A Justification–Suppression Model of the Expression and Experience of Prejudice. Psychological Bulletin 2003, Vol. 129, No. 3, 414–446
Fachkommission Integrationsfähigkeit. (2021). Gemeinsam die Einwanderungsgesellschaft gestalten. Berlin: Fachkommission der Bundesregierung zu den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit. https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/themen/heimat-integration/integration/bericht-fk-integrationsfaehigkeit.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (zugegriffen am 16.08.2022).
Foroutan, N. (2019). Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie. Bielefeld: transcript.
Haller, W., Portes, A., & Lynch, S. M. (2011). On the Dangers of Rosy Lenses Reply to Alba, Kasinitz and Waters. Social Forces 89(3): 775–782.
Portes, A., & Rumbaut, R. G. (2001). Legacies: The Story of the Immigrant Second Generation. Berkeley: University of California Press.