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Fachpublikum diskutiert Alternativen zur Kategorie ‘Migrationshintergrund’

Zentrale Ergebnisse finden Sie hier als PDF zusammengefasst

Das erste parlamentarische Forum des Rats für Migration mit dem Titel „Was kommt nach dem Migrationshintergrund?“ fand am 27. April 2023 an der TU Berlin statt. Es wurde in Zusammenarbeit mit dem Vernetzungsprojekt „Paradigmenwechsel in der Migrationsgesellschaft“ (NUPS) am Institut für Stadt- und Regionalplanung organisiert. Die Referent*innen gaben prägnante und informative Inputs, die sich aus verschiedenen Perspektiven der Frage näherten, wie Migration und das Risiko rassistisch diskriminiert zu werden in Deutschland zukünftig erfasst werden sollten. Die Integrationsministerkonferenz der Länder (IntMK) und die Fachkommission Integrationsfähigkeit streben an, den Begriff „Migrationshintergrund“ nicht mehr zu verwenden. Über mögliche Alternativen diskutierten wir mit unseren Gästen; darunter parlamentarische Repräsentant*innen sowie Vertreter*innen aus Behörden, Forschung und zivilgesellschaftlichen Organisationen.

Notwendigkeit von Antidiskriminierungsdaten: Einigkeit unter den Anwesenden

Die Migrationsforscherin Dr. Anne-Kathrin Will knüpfte an die RfM Debatte 2022 an und schlug vor, das Konzept des „Migrationshintergrundes“ zu verlassen und durch drei Kriterien zu ersetzen: die Einwanderung einer Person sowie ihre   Selbstbezeichnungen und selbstwahrgenommene Fremdzuschreibung. Diese Neuausrichtung soll die Abstammungsperspektive verabschieden und die Selbstbestimmung der Befragten ermöglichen. Die Fragen dazu müssen mit den von Rassismus betroffenen Communities entwickelt werden, was finanzielle Ressourcen erfordert.

Dr. Doris Liebscher, Juristin und Leiterin der LADS-Ombudsstelle Berlin, die sich auch bereits an der RfM Debatte 2022 beteiligt hatte, schloss sich dem Standpunkt an, dass Daten zu Migrations- und Rassismuserfahrung für statistische Zwecke erhoben werden sollen. Sie argumentierte, dass die Datenerhebung nur dann zulässig ist, wenn sie dem Zweck der Gleichheit und Teilhabe dient und die Risiken von Essentialisierung und Stigmatisierung berücksichtigt. Beispielhalft stellte sie die Definition von Migrationsgeschichte im Berliner PartMigG vor, die diese Aspekte rechtlich verbindet.

Der Politikwissenschaftler Joshua Kwesi Aikins widmete sich der Frage, wie Diskriminierung und Rassismus in Deutschland besser erfasst und bekämpft werden können. Er kritisiert den Begriff “Migrationshintergrund” als unzureichend und fordert eine differenzierte Erfassung von Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten. Er verweist auf den Afrozensus als ein Beispiel für eine communities-basierte Befragung von Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Menschen in Deutschland, die eine intersektionale Perspektive auf Diskriminierung einnimmt. Die Ergebnisse zeigen, dass Rassismus bereichsspezifisch unterschiedlich wirkt und entsprechend auch gezielte Interventionen benötigt werden.

Die Argumente der impulsgebenden Referent*innen wurden im Plenum unter Moderation von Dr. Linda Supik diskutiert. So wurde u.a. für eine Aufnahme neuer Fragen auf freiwilliger Basis plädiert, um zu bestimmen, welche Informationen für die Messung migrationsbezogener und rassifizierender Diskriminierung relevant sind. Die bisherigen Kategorien seien zu ungenau und erfassen nicht die Vielfalt und Veränderlichkeit von herkunftsbezogenen Differenzkategorien in der Migrationsgesellschaft und vor allem nicht die Zuschreibung und Verweigerung von Zugehörigkeit. Darum sollten neben den Einwanderungsdaten auch Antidiskriminierungsdaten gesammelt werden.

Mit Bezug auf Bildungsungleichheiten sollten diese nicht auf einem (vermeintlichen) Migrationshintergrund der Lernenden basieren. Die soziale Lage, in der Kinder und Jugendliche aufwachsen und leben, hat einen erheblichen Einfluss auf ihre Bildungschancen. Um die vielfältigen Faktoren zu berücksichtigen, die Bildungsungleichheit erzeugen und verstärken, ist eine intersektionale Perspektive notwendig. Diese berücksichtigt, dass Klassismus und Rassismus sich gegenseitig bedingen und verstärken und dass sie die Lernenden in unterschiedlicher Weise betreffen. Daten zu Bildungsungleichheit müssen ein differenziertes und realistisches Bild der Situation zeichnen.

Ein Kommentar aus dem Publikum wies darauf hin, wie neue statistische Kategorien die bestehenden Hilfen für benachteiligte Migrantengruppen beeinflussen würden. Der Begriff Migrationshintergrund wird oft als eine soziodemographische Kategorie verwendet, die Personen beschreibt, die selbst oder deren Eltern aus einem anderen Land eingewandert sind oder deren Eltern nicht die Staatsangehörigkeit des Ziellandes besessen haben. Hier gibt es die Sorge, dass im Falle des Wechsels zu einer anderen Kategorie das Erfolgsmonitoring nicht mehr fortgesetzt werden kann. Hier hatte bereits in der RfM-Debatte 2022 Merih Ateş auf die Lösung einer zeitlich begrenzten Übergangsfrist hingewiesen, in der alte und neue Kategorien parallel berichtet werden. Ziel ist aber eine realistischere Abbildung von rassistisch bedingten sozialen Ungleichheiten, so dass auch Interventionen gezielt erfolgen können.

Im Alltag wird das Label Migrationshintergrund häufig auch für Menschen angewendet, die keinen Migrationshintergrund haben, aufgrund ihrer Hautfarbe oder anderer Merkmale als fremd oder „nicht von hier“ wahrgenommen werden. Ein Beispiel dafür sind Schwarze Menschen in Deutschland, denen oft ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, obwohl bereits ihre Eltern hier geboren und aufgewachsen sind.  Unterstützungsmaßnahmen, die vom Migrationshintergrund abhängen, können somit Menschen ausschließen oder benachteiligen, die Unterstützung benötigen oder wünschen. Eine weitere Herausforderung ist, dass der Migrationshintergrund als eine objektive und eindeutige Kategorie angesehen wird, die die Vielfalt und die Selbstbeschreibungen der betroffenen Personen ignoriert oder überschreibt. Selbstauskünfte werden in Bezug auf Geschlecht gemeinhin auch akzeptiert und nicht überprüft.

Es wurde betont, dass Maßnahmen die institutionellen Strukturen von Rassismus in den Blick nehmen müssen und dass nicht darauf gewartet werden darf, bis Diskriminierte sich aktiv melden, sondern dass proaktive Schritte zur Veränderung nötig sind.

Wie kann es weitergehen?

Die statistische Kategorie „Migrationshintergrund“ ist ungeeignet, Diskriminierungen oder Unterstützungsbedarfe zu erfassen. Sie kann dazu führen, dass soziale Probleme und Diskriminierungserfahrungen stark verzerrt wahrgenommen werden. Zudem wird die Vielfalt der Einwanderungsgesellschaft nie als Normalität aufgefasst, solange Migrationshintergrund gleichzeitig ein Indikator für Förderbedarfe ist. Deshalb sollten neben der Einwanderung auch Antidiskriminierungsdaten erhoben werden. Dazu braucht es einen engen Dialog zwischen den Selbstorganisationen von Rassismus Betroffener, den Behörden und dem Gesetzgeber. Eine Herausforderung bleibt der dafür notwendige Paradgimenwechsel in den Behörden, der für eine breitere Akzeptanz von freiwilligen Selbstauskünften zu Selbstbezeichnungen der Befragten sorgt. Die neuen Fragen sollen – mit entsprechender staatlicher finanzieller Unterstützung – in den zivilgesellschaftlich organisierten Communities von Rassismus Betroffener entwickelt werden und könnten in folgende Richtung gehen: „Sind Sie in das heutige Gebiet Deutschlands eingewandert?“, „Wie bezeichnen Sie sich selbst?“ oder „Werden Sie als nicht-deutsch/nicht-weiß/fremd wahrgenommen?“.

Eine ausführliche Auseinandersetzung fand außerdem im Zuge der RfM Debatte 2022 statt und kann hier nachgelesen werden.