Die Jahrestagung des Rats für Migration zur Kritik rassistischer Praktiken widmete sich der Analyse der Wirkmächtigkeit von Rassekonstruktionen in Politik und Wissenschaft. Der diesjährige Austragungsort der Jahrestagung war dabei nicht wie in den vergangenen Jahren Berlin, sondern Frankfurt am Main. Damit war auch ein symbolisches Zeichen gegen Rassismus verbunden, da Hessen in jüngster Zeit Schauplatz von rassistischen Morden geworden ist, dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juli 2019 und der Ermordung von neun Menschen im Februar 2020 in Hanau.
Bis zu 430 Teilnehmer*innen aus dem deutschsprachigen Raum und darüber hinaus verfolgten die zweitägige Tagung, die an der Goethe-Universität Frankfurt (12./13.11.2020) in hybrider Form durchgeführt wurde. Der Fokus der Veranstaltung lag auf der Auseinandersetzung mit rassistischen Praktiken im Bildungssystem, dem Racial Profiling bei der Polizei als Praktik rassistischer Markierung und Belangung und nicht zuletzt mit begrifflichen und historischen Aspekten der Rassismusforschung. Die Tagung, die trotz komplexerer Herausforderungen einer sowohl vor Ort wie online stattfindenden Veranstaltung unterschiedliche Diskussions- und Präsentationsformate realisieren konnte, endete mit einer Analyse der deutschen Politik im Spiegel der UN-Anti-Rassismuskonvention.
Aus einer ursprünglich zweitägigen Präsenzveranstaltung mit über 25 Referent*innen und anvisierten ca. 150-200 Besucher*innen aus ganz Deutschland und der Schweiz wurde pandemiebedingt letztlich ein Tagungsformat, in dessen Rahmen ein kleiner Teil der Teilnehmenden (ca.25) an der Goethe-Universität vor Ort präsent war, während der größere Teil der Referent*innen und Moderator*innen aufgrund der Reisebeschränkungen online hinzugeschaltet war. Es gelang den Referent*innen trotz nur relativ kurzer Vorlaufzeit, sich auf das digitale Format einzustellen und jene Gelassenheit auszustrahlen, die es möglich macht, auch bei technischen Komplikationen, die so ein Format unweigerlich mit sich bringt, einen gemeinsamen kühlen Kopf zu bewahren. Ermöglicht wurde die Organisation der Tagung an der Goethe-Universität Frankfurt durch die Kooperation mit dem Projekt Fem4Dem, geleitet von Prof. Dr. Harry Harun Behr und dem Cornelia Goethe Zentrum. Als engagierte und überaus flexible Gastgeber*innen sorgten sie für den angemessenen Rahmen und vor allem für die technischen Voraussetzungen dieses hybriden Formats.
Als eine der zentralen Erfahrungen der so durchgeführten Tagung kann festgehalten werden, dass so viele Teilnehmer*innen erreicht werden konnten. Dem zum Ausdruck gebrachten Wunsch, die Tagung nachträglich als Aufnahme zur Verfügung zu stellen, kommen Gastgeber*innen und Organisator*innen gerne nach. Auch die nächste Tagung soll wieder gestreamt und nachträglich als Aufnahme zur Verfügung gestellt werden.
Bilder: Meltem Kulaçatan
Aufzeichnungen und Rückblick zur Jahrestagung 2020
Das Tagungsprogramm kann hier abgerufen werden
Begrüßungen zur RfM Jahrestagung 2020
Die Dialektik der Be- und Entnennung von Rassismen
Zunächst widmeten sich Vertreter*innen mit Perspektiven aus der antischwarzen, antimuslimischen, antisemitischen und antiziganistischen Rassismusforschung mit Bezug zu den Feldern Sozialarbeit, Schule und Bildungspolitik dem zentralen Anliegen der Tagung, Rassismus als strukturelles Problem von Gesellschaften zu analysieren. Geteilter Ausgangspunkt war die Feststellung, dass die deutsche Gesellschaft zurzeit zugleich eine Konjunktur des Rassismus, eine Alltäglichkeit rassistischer Praktiken wie auch eine zunehmende Thematisierung von Rassismus nicht nur in der Forschung, sondern auch in Politik und Praxis erlebe.
Für die Benennung und Unterscheidung von RassismEN spräche, so die Diskussion, dass rassistische Praktiken sich in spezifischer Weise gegen bestimmte Gruppen wendeten und immer historisch und geographisch eingeordnet werden müssten. Sie alle seien aber als Bestandteil von strukturellem Rassismus zu verstehen. Sie seien gekennzeichnet durch Handeln in Institutionen bzw. institutionelles Handeln und in der Regel eingebettet in gesellschaftliche Machtverhältnisse, in denen rassistisches ‘Wissen’ über natio-ethno-kulturelle Minderheiten gesellschaftlich etabliert und institutionell reproduziert würden. Zugleich berge die explizite Benennung der Opfer von Rassismus in der Spezifizierung von RassismEN die Gefahr einer Hierarchisierung von Rassismen sowie einer Reifizierung der so benannten, von Rassismus Betroffenen. Zudem suggeriere dies den Fehlschluss, dass Menschen, die rassistisch markiert sind, der Auslöser von Rassismus seien. Darüber hinaus stelle sich die Frage wie die gruppenspezifische Benennung von RassismEN als Teil einer Identitätspolitik Wirksamkeit entfalten könne, im Sinne einer Dialektik von Be- und Entnennung. Über die „Familienähnlichkeit“ der RassismEN waren sich die Diskussionsteilnehmer*innen einig.
Konjunkturen von Rassismus
Durch die Anpassungsfähigkeit von RassimEN ist nicht etwa von einem Verlust deren Wirkmacht auszugehen, so wie es der Gedanke eines sich selbst verstetigenden gesellschaftliche Fortschritts nahelegt. Vielmehr verfügen rassistische Narrative über eine diskursive Anpassungsfähigkeit, welche in immer wiederkehrenden „Konjunkturen von Rassismus“ deutlich werden. Rassismus knüpft als „Bindemittel, mit dem rechte Politik massentauglich wird“, an vorhandenen Wissensbestände in der Mitte der Gesellschaft an, die das Postulat einer Aufteilung der Menschheit in inkompatible Kulturen, Ethnien, Rassen etc. als plausibel bezeichnen. Für eine Bekämpfung des Rassismus ist es wichtig, den Entstehungsherd des rechten Terrors zu verstehen. Dazu zählen die „Echokammern neo-faschistischer Gruppen im Internet“, die eine Normalisierung des Regierens im Dunkeln etablierten. Rassismus ist gekennzeichnet durch seine zeiträumliche Komplexität (Goldberg). Rassismus solle in seiner Kontingenz und strukturellen Wirksamkeit untersucht werden. Daher bedürfe es einer differenzierten ontologischen Analyse des Rassismus und darauf aufbauend einer Aktualisierung des Rassismus-Verständnisses. Auch wurde das dialektische Verhältnis zwischen der Benennung eines auf bestimmte Gruppen bezogenen Rassismus, um diese Gruppen zu schützen als diese Gruppen zugleich konstruierend und essentialisierend hervorgehoben. Es wäre Aufgabe von antirassistischer Arbeit, so benannte Kollektive infrage zu stellen. Als verstörend erweist sich der Versuch autoritärer Regime, sich der Figur des Rassismusvorwurfes als Argument gegen den (politischen) Gegner zu bedienen und damit den inhaltlichen Gehalt von Rassismus auszuhöhlen.
Struktureller Rassismus im Bildungssystem
Expert*innen aus der Wissenschaft und Praxis setzten sich konkret am Beispiel von Schule und Ordnungskräften mit zwei – im Hinblick auf rassistische Verhältnisse – besonders relevanten gesellschaftlichen Institutionen auseinander. Lehrer*innen und Polizist*innen, so wurde über zwei themenfokussierte Diskussionen deutlich, sind gesellschaftlich machtvolle Akteur*innen, die sich der Zusammenhänge zwischen der Herkunft ihres Wissens über „die Anderen“, ihrem daraus abgeleiteten Handeln und ihrem Beitrag zur Etablierung von strukturellem Rassismus bewusst werden müssen. Für die Schule wurden Bereiche wie das Fächerangebot von Schulen, die dekolonialtheoretisch nicht hinterfragten Wissensbestände, das im Unterricht vermittelte Wissen über „uns“ und „die Anderen“, verbunden mit Stereotypen als Merkmale von strukturellem Rassismus benannt. Auch die unhinterfragte, nationale Verfasstheit von Schule sei ein struktureller Rahmen, in dem sich Rassismen entfalten könnten.
Es bräuchte auch in der Lehrer*innenbildung eine rassismustheoretische Perspektive auf Schule, die diese Mechanismen sichtbar und der Analyse zuführen könne. Mit Verweis auf ein aktuelles empirisches Projekt in einer von rechten Bewegungen beeinflussten hessischen Kleinstadt, wurden „Führungsnarrative“ einer weißen, mittelschichtsorientierten, privilegierten Lehrer*innenschaft thematisiert, die einem vorherrschenden Narrativ zu muslimischen Schüler*innen, mit Eigenschaften wie etwa ‘weniger wert’, weniger ‘zivilisiert’, ‘nicht demokratiefähig’ zu sein, gegenüberstehen.
Auch könne vor allem Berührungsangst und Ohnmacht im Umgang mit Antisemitismus aufgrund von Unwissenheit und Unsicherheit vielen Pädagog*innen attestiert werden. Das trage mit dazu bei, dass man heute von einer Konjunktur des Antisemitismus sprechen müsse. Eine weitere Beobachtung aus der Praxis ist, dass es für eine effektive Antidiskriminierungsarbeit an Schulen häufig eines Initialvorfalls bedarf, damit die dahinter liegende längere Geschichte, die auf strukturelle Probleme im Umgang mit Rassismus an Schulen verweist, sichtbar und bearbeitbar werden kann. Manchmal würde aus einer zunächst die Institution verteidigenden Position eine aktive Auseinandersetzung mit dem Problem. Diversitätssbildung oder auch „Diversity Literacy“ als Schulfach sowie Beispiele, in denen ganze Schulverbünde sich auf den Weg gemacht hätten, zusammen mit den Schüler*innen ein diskriminierungskritisches Profil der Schulen zu entwickeln und auch Überlegungen, Schule in ihrer derzeitigen Form grundlegend zu hinterfragen und daraus Schlüsse für radikale Reformen in Richtung einer vollständigen Inklusion zu ziehen wurden als Konsequenzen aus den Analysen auf dem Podium diskutiert.
Struktureller Rassismus am Fall Racial Profiling
Wie in Institutionen des Bildungssystem benötige es auch in den Sicherheitsbehörden Reflexionsräume und Zeit sowie fachliche Unterstützung. In der Regel würde nicht bewusst rassistisch gehandelt, sondern die Folgen des Handelns machen sich als rassistischer Ausschluss aus der Gesellschaft bemerkbar. Die Abwehr von Maßnahmen mit der Begründung, Rassismus sei nur vorhanden in der Wahrnehmung der ‘Betroffenen’ sei eine weit verbreitete institutionelle Reaktion, besonders stark im Kontext von Polizeihandeln, so die Referent*innen. Im Kontext des Racial Profiling bei der Polizei erweise sich Hautfarbe als „Mastersignifier“, dem die so Markierten versuchten, durch Überanpassung an gesellschaftliche Kleidungskonventionen zu entgehen, um ihre Würde bewahren zu können. Auf Seiten der Polizei werde die Belegverantwortung für das Vorkommen von Rassismus wird individuell Betroffenen zugeschoben, institutionelles Handeln abgewehrt. Die Forscher*innen sprechen hier von ‘De-Thematisierung’ oder auch ‘Entnennung’ der institutionellen Dimension von Rassismus als Möglichkeit, den Vorwurf abzuweisen. Es gebe aber auch praktische Gegenbeispiele etwa bei der Hamburger oder Bremer Polizei, die Maßnahmen gegen Racial Profling beschlossen haben. Eine Dokumentation entsprechender Vorkommnisse durch unabhängige Stellen und ihre Ressourcenausstattung sei nötig, um zu gesicherten Erkenntnissen über Umfang und Ausprägung von strukturellem Rassismus bei der Polizei zu kommen.
Den Begriff „Rasse“ aus dem Grundgesetzt streichen?
Kontrovers diskutiert wurde auch die nach den Morden in Hanau eingeforderte Streichung des „Rasse“-Begriffs im deutschen Grundgesetz. Dem Post-racialism zuzurechnen ist der Versuch, durch die Nichtverwendung des Begriffs der „Rasse“ diesem seine Wirkmächtigkeit zu entziehen. Dagegen wird argumentiert, dass die Streichung dieses Begriffs juristisch verunmögliche, rassistische Diskriminierung als solche zu einem Gegenstand einklagbaren Unrechts zu machen. Dabei wurde betont, dass Rassismus nicht Ergebnis von Rassetheorien ist, sondern diese dazu dienen, die Wirkmacht von „Rasse zu legitimieren“. Race, definiert als sozialstrukturtheoretisches Paradigma zur Beschreibung sozialer Verhältnisse, kann nicht durch Ethnie oder andere Begriffe ersetzt werden, denn die Streichung der Begriffe ‘race’ oder „Rasse“ verunmögliche die Analyse des damit verbundenen Paradigmas. ‘Race’ oder „Rasse“ zur Grundlage des Zugeständnisses allgemeiner (Menschen-)Rechte zu machen, sei auch in der jungen Republik noch eine durchaus kontrovers diskutierte Position gewesen, die sich u.a. an der Legitimation einer Nicht-Gleichbehandlung der Roma und Sinti („Zigeuner“), denen ein grundsätzlich ‘anderes’ Wesen zugeschrieben wurde, zeigte. Ohne den Begriff ‘race’ oder „Rasse“ zu benennen, würde ein Diskurs über Rassismen nicht möglich sein.
Die Beibehaltung des „Rasse“-Begriffs im Grundgesetz kann als eine historische Dimension der Verrechtlichung von Diskriminierungsschutz verstanden werden. Aktuell werde aber in der juristischen Fachliteratur und unter Jurist*innen nach wie vor von einem biologistischen Verständnis von „Rasse“ ausgegangen, demzufolge Menschen als „Rassegruppen“ (biologisch/kulturell) konstruiert würden, mit verschiedenen Wertigkeiten. Diese Vorstellung abzuwehren, sähen die meisten Jurist*innen als ihre Aufgabe in der Auslegung des Anti-Diskriminierungsrechts. Einig waren sich die Referent*innen des betreffenden Panels, dass der Begriff der Rasse resignifiziert werden müsse, das Recht eine transparente Rechtssprache im Umgang mit Begriffen wie „Rasse“ und „Rassismus“ finden müsse, um entsprechende Sachverhalte der Rechtssprechung zugänglich zu machen und nicht selbst – ggf. auch in bester Absicht – zu rassifizieren.
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