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RfM-Debatte 2021: Ein Kommentar von Prof. Dr. Albert Scherr

Strukturen, Dynamiken, Umbrüche: Ausgangsbedingungen und Aufgaben einer zeitgemäßen Rassismusforschung

Initialbeitrag der RfM-Debatte 2021: „Rassismus als Praxis der langen Dauer. Welche Rassismusforschung braucht Deutschland – und wozu“ von Maria Alexopoulou, TU Berlin

Autor des Kommentars: Albert Scherr, PH Freiburg, 13.07.2021

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Rassismus als Form struktureller, organisationeller, institutioneller und interaktioneller Diskriminierung

Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist ein Verständnis von Rassismus als eine spezifische Form von Diskriminierung, deren Gemeinsamkeiten und Überlagerungen sowie deren Unterschiede zu anderen Formen von Diskriminierung (u.a. geschlechtsbezogener, ethnisierender, religionsbezogener und klassistischer) zu bestimmen sind. Unter Diskriminierung wird dabei hier die Konstruktion, Etablierung und Verwendung kategorialer Unterscheidungen zur Herstellung, Begründung und Rechtfertigung von Zugehörigkeiten und Abgrenzungen, Privilegierungen und Benachteiligungen verstanden. Diesbezüglich wird auf Grundlage der einschlägigen soziologischen Forschung[1] weiter angenommen, dass Diskriminierung keineswegs primär oder gar exklusiv  in identifizierenden und benachteiligen Sprechakten und Handlungen von individuellen und kollektiven Akteuren besteht, sondern dass diese auf dafür konstitutive Formen gesellschaftsstruktureller, organisationeller und institutioneller Diskriminierung sowie korrespondiere Semantiken (Alltagstheorien, Diskurse, Ideologien) verweisen. Vorurteile und diskriminierende Handlungen sind – soziologisch betrachtet – also keineswegs die Ursache von rassistischer Diskriminierung, sondern ein Element gesellschaftlicher Verhältnisse, die durch diskriminierende Regulierungen von Zugehörigkeit sowie Positionierungen in Hierarchien und Strukturen sozioökonomischer Ungleichheit gekennzeichnet sind.

Folglich ist davon auszugehen, dass unterschiedliche gesellschaftliche Kontexte und gesellschaftliche Veränderungsdynamiken Auswirkungen auf jeweilige Formen von Rassismus haben, was sich auch empirisch zeigt.[2] Begriffsstrategisch ist es folglich wichtig, nicht von einem singulären Rassismus auszugehen, der sich in unterschiedlichen Spielarten manifestiert – wie dies der Initialbeitrag nahelegt (S. 3) – sondern von unterschiedlichen Ausprägungen von Rassismen, die sich im Hinblick auf ihre Entstehungskontexte und ihre Funktion ebenso unterscheiden wie bezüglich der Klassifikationssysteme und ihrer Begründung. Problematisch ist es auch, einen übergeneralisierten Rassismusbegriff zu verwenden, der auch alle Varianten von ethnisierender und religionsbezogener Diskriminierung unter Rassismus subsumiert, und damit vernachlässigt, dass biologischer Rassismus auf der Grundlage des Satzes kritisiert werden kann, dass es „Rassen“ nur als Element rassistischer Diskurse und Ideologien gibt, was für Ethnien und Kultur nicht in gleicher Weise (!) zutrifft, weshalb für die ethnisierende und kulturalisierende Diskriminierung andere theoretische Rahmungen der Analyse und Kritik erforderlich sind. Dies ist auch für die Analyse und Kritik von Antisemitismus folgenreich, denn eine Kritik der biologisch-rassistischen Konstruktion von Juden als „Rasse“ kann eine eigenständige Kritik von Formen des religiösen Antisemitismus ebensowenig ersetzen wie eine eigenständige Kritik des israelbezogenen Antisemitismus.    

In der Perspektive der Soziologie ist es zudem wichtig darauf hinweisen, dass Rassismen selbst nur angemessenen begriffen werden können, wenn sie in ihrem jeweiligen Zusammenhang mit den für moderne Gesellschaften kennzeichnenden Ungleichheitsverhältnissen von Klassen und Schichten sowie mit politischen Machverhältnissen auf globaler Ebene, wie innerhalb unterschiedlicher Nationalgesellschaften, in den Blick genommen werden. Dabei ist zugleich zu berücksichtigen, dass rassistische Diskriminierung in einem grundlegenden Widerspruch zum Selbstverständnis moderner Gesellschaften als Gesellschaften freier und gleicher Individuen steht. Folglich benötigt Rassismusforschung eine gesellschaftstheoretische Fundierung, die dazu befähigt, die Genese und die Funktion von Rassismen innerhalb komplexer gesellschaftlicher Macht- und Ungleichheitsverhältnisse  ebenso zu analysieren wie die gesellschaftliche Verankerung von Normen, Werten und Vergesellschaftungsformen, durch die rassistische Einteilungen in Frage gestellt, neutralisiert oder konterkariert werden.

Das damit knapp skizzierte Verständnis von Diskriminierung und damit auch von Rassismus als gesellschaftliches – also historisch gewordenes und in gesellschaftlichen Strukturen und Semantiken verankertes –  Phänomen, kann als unstrittiger Stand der Theorieentwicklung in der Soziologie gelten und ist auch im deutschen Kontext als Grundlage einer Reihe empirischer Studien (unter anderem zu institutioneller bzw. organisationeller Diskriminierung in Schulen, in der beruflichen Bildung und auf dem Arbeitsmarkt, zu Alltagsrassismus sowie zu Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen Betroffener) verwendet worden. Selbst die Sozialpsychologie ist mit der Entwicklung der Theorie sozialer Dominanz über ein Verständnis von Rassismen als Folge von Stereotypen und Vorurteilen hinausgegangen und hat die systematische Berücksichtigung von „group-based social hierarchies“ in Gesellschaften eingefordert.[3]

Insofern deutet der Hinweis auf die negativen Folgen einer kritiklosen Übernahme soziologischer Konzeptionen durch die deutsche Geschichtswissenschaft im Initialbeitrag (S. 10) weniger auf Theorie- und Forschungsdefizite der Soziologie, als auf ein Rezeptionsdefizit in der deutschen Geschichtswissenschaft bzw. auf Defizite der interdisziplinären Kommunikation hin. Sofern dieses Rezeptions- und Kommunikationsdefizit tatsächlich in der behaupteten Weise gegeben ist, wäre erklärungsbedürftig, warum dies der Fall ist und was mögliche Schritte sind, um dieses zu überwinden. 

Rassismen im Kontext von Machtbeziehungen, Ungleichheitsverhältnissen und sozialen Konflikten

Um zu klären, in welcher Hinsicht ein Bedarf an Weiterentwicklung der Rassismusforschung in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen besteht, ist es unabdingbar, sich des erreichten Standes der Theorieentwicklung zu vergewissern. Denn es wäre mühsam und wenig hilfreich, sich an bloß vermeintlichen Defiziten abzuarbeiten, statt an verfügbare theoretische Klärungen und empirische Wissensbestände produktiv anzuschließen. Deshalb sollen hier einige Hinweise auf Einsichten der soziologische Diskriminierungs- und Rassismusforschung erfolgen, die außerhalb der disziplinären Grenzen – und auch in der deutschen Soziologie selbst – meines Erachtens bislang zu wenig Beachtung finden.

Disziplingeschichtlich ist für die Soziologie festzustellen, dass sie über eine reichhaltige Tradition von Theorien verfügt, in denen Rassismen in Zusammenhang mit Strukturen sozialer Ungleichheit, mit Machtverhältnissen und mit sozialen Konflikten analysiert werden. Ein wichtiger Ausgangspunkt dafür ist Max Webers explizite Ablehnung des Rassebegriffs als soziologische Kategorie, die er mit einer Analyse verbindet, in der akzentuiert wird, dass der wirkungsmächtige Glaube an vermeintlich naturgegebene Unterschiede zwischen „Rassen“ als „sozial bedingt“ und dabei in Zusammenhang mit „Tendenzen zur Monopolisierung von sozialer Macht und Ehre“[4] (Weber 1992/1980: 235) zu analysieren ist. Webers rassismuskritische Position ist im Zusammenhang seiner Kooperation mit W.E.B. Dubois entstanden, der sich in empirischen Studien und theoretischen Analysen mit den rassistisch strukturierten gesellschaftlichen Verhältnissen in den USA befasst hat, so etwa in seiner zuerst 1903 veröffentlichen Aufsatzsammlung „The Souls of Black Folk“ und in einem bereits 1906 im deutschsprachigen Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik erschienenen Aufsatz. In einer machtsoziologischen Perspektive hat Norbert Elias aufgezeigt, dass Konstrukte von Zugehörigkeit und damit verbundene Vorurteile soziologisch als Bestandteil von Etablierten-Außenseiter-Beziehungen, also von Machtkonflikten in sozialen Figurationen und damit verbundenen „Positionskämpfen“ (Elias 1983: 27) zu analysieren sind.[5] Dabei hat er – im Vorgriff auf spätere sozialpsychologische Forschungsergebnisse – auch akzentuiert, dass Vorurteile nicht die Ursache, sondern eine Ausdrucksform von Machtkonflikten und insbesondere als Mittel bedeutsam sind, um einen sozialen Aufstieg bislang marginalisierter Gruppen zu verhindern. Mit seinem genuin soziologischen, keineswegs kognitionspsychologischen Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiung hat Robert K. Merton[6] (1948) – insbesondere am Beispiel der Verweigerung amerikanischer Gewerkschaften, schwarze Arbeiter zu organisieren – gezeigt, wie gesellschaftlich etablierte rassistische Überzeugungen zu Organisationsstrategien führen können, welche die falschen rassistischen Ausgangsannahmen zu bestätigen scheinen. Herbert Blumer hat in seinen Arbeiten zur race-relations-Forschung in den 1960er Jahren zudem darauf hingewiesen, dass rassistische Gruppenkonstruktionen und Zuschreibungen nicht allein als Rechtfertigung bestehender Ungleichheiten bedeutsam, sondern auch als zukunftsbezogene Vorstellungen darüber wirkungsmächtig sind, was die legitime gesellschaftliche Position rassistisch kategorisierter Kollektive in einer anzustrebenden gesellschaftlichen Ordnung sein soll, es bei Rassismen also immer auch um das geht, was Pierre Bourdieu in Anschluss an Blumer den Sinn für die Stellung im sozialen Raum genannt hat.[7] Charles Tilly  argumentiert in der Perspektive der historischen Soziologie, dass langfristig stabile Ungleichheiten notwendig  mit kategorialen Unterscheidungen „such as black/white, male/female, citizen/foreigner, or Muslim/Jew“ verschränkt sind und entwickelt Überlegungen dazu, in welcher Weise strukturelle Ungleichheiten durch diskriminierende Unterscheidung hergestellt, verfestigt und legitimiert werden.[8] Substanzielle Bemühungen, die mehr oder weniger direkt an diese Traditionslinien anknüpfen und diese weiterzuentwickeln versuchen, liegen u.a. in britischen Cultural Studies (insbesondere Stuart Hall) und in anderen  neomarxistischen Kontexten (etwa: Etienne Balibar, Wolfgang F. Haug, Annita Kalpaka, Nora Räthzel) sowie im Kontext soziologischer Differenzierungstheorien vor.

Mit diesen Hinweisen war zu verdeutlichen, dass es in der gegenwärtigen Diskriminierungs- und Rassismusforschung gute Gründe gibt, eine interdisziplinäre Verständigung über theoretische Konzepte anzustreben, die der disziplinübergreifenden Kommunikation und empirischer Forschung zu Grunde gelegt werden können, statt diesbezüglich ein generelles Defizit zu unterstellen, das erst auf der Grundlage weiterer empirischer Forschung behoben werden könnte. Ob dabei dann sinnvoll davon ausgegangen werden kann, dass Rassismus „in erster Linie Ergebnis von Praktiken“ ist – wie im Initialbeitrag angenommen wird (S. 9) – durch die „rassistische Wissensbestände“ produziert werden, wäre dabei auf Grundlage einer genaueren Auseinandersetzung mit verfügbaren Theorien zu diskutieren. Die Soziologie legt demgegenüber eher die Annahme einer konstitutiven Wechselwirkung von Strukturen, Praktiken und Semantiken nahe.   

Dialektische Forschung über Rassismus und Rassismuskritik

Der Forderung des Initialbeitrags, dass in der Bildungsarbeit auch „Geschichten von gelebter Solidarität und Kooperation“ (S. 8) vermittelt werden sollten, also nicht nur Wissen über Geschichte und Gegenwart von Rassismus, sondern auch über Geschichte und Gegenwart antirassistischer Praktiken, stimme ich nachdrücklich zu. Und im Interesse, jeweilige Adressat*innen nicht nur über Rassismus aufzuklären, sondern auch zu Engagement und Widerständigkeit zu ermutigen und zu befähigen, sollten hier nicht nur exzeptionelle Fälle dargestellt werden, sondern auch der „alltägliche Kosmopolitismus“[9], der in Gleichaltrigengruppen, Nachbarschaften, Schulen und Betrieben entstehen kann.

Darüber hinaus ist es auch für die empirische Forschung von zentraler Bedeutung, in den Blick zu nehmen, dass Rassismus kein totales und geschlossenes System ist, wie es die inzwischen gängige Redeweise von einer rassistisch strukturierten Gesellschaft suggeriert. Die gesellschaftliche Verankerung und Reichweite von Rassismen kann deshalb theoretisch und empirisch nur dann angemessenen erfasst werden, wenn zugleich reflektiert wird, in welcher Weise in gesellschaftlichen Strukturen und Semantiken auch Merkmale und Tendenzen eingeschrieben sind, die eine Neutralisierung rassistischer Kategorien und Anerkennungsverhältnisse unter Gleichberechtigen ermöglichen. Eine dialektische Rassismusforschung, die Widersprüche in den Strukturen und Semantiken sowie rassistische und antirassistische Praktiken in den Blick nimmt, müsste sich zudem auch für die Veränderungstendenzen sensibilisieren, die Folge der Herausbildung eines globalisierten Kapitalismus sowie der staatlichen Inanspruchnahme der Menschenrechte als legitimierende Wertegrundlage sind. Dabei ist die Bedeutung von Staatsangehörigkeit als wirkungsmächtige diskriminierende Unterscheidung zu berücksichtigen, die mit Rassismen verschränkt sein kann, dies aber keineswegs immer und notwendig ist. Nicht nur dies fordert dazu auf, sich in der Rassismusforschung reflexiv und selbstkritisch mit der eigenen gesellschaftlichen Situierung auseinanderzusetzen.

Literatur- und Quellenangaben


[1] S. als Überblick dazu A. Scherr, Soziologische Diskriminierungsforschung, in: A. Scherr/A. El-Mafaalani/G. Yüksel (Hrsg.): Handbuch Diskriminierung, Wiesbaden 2016 sowie A. Scherr, Diskriminierung und Diskriminierungskritik: eine problemsoziologische Analyse, in: Soziale Probleme. H. 31, 2021, S. 83-102.

[2] S. etwa George M. Fredrickson, Rassismus, Stuttgart 2011; Dieter Geulen, Geschichte des Rassismus, München 2007; Karin Priester, Rassismus. Eine Sozialgeschichte, Leipzig 2003.

[3] s. Jim Sidanius und Felicia Pratto. Social Dominance: An Intergroup Theory of Social Hierarchy and Oppression. Stanford University Press 1991.

[4] Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1992/1980, S. 235.

[5] Norbert Elias: Engagement und Distanzierung, Frankfurt 1983, S. 27

[6] Robert K. Merton: The Self-Fulfilling Prophecy. In: Antioch Review 8, 1948, S. 193–210.

[7] Herbert Blumer, Race prejudice as a sense of group position. In J. Masuoka & V. Preston (Hrsg.),Race relations. Problems and theory (S. 217–227). New York 1961, S. 217-227; vgl. Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und Klassen, Frankfurt 1985

[8] Charles Tilly, Identities, Boundaries & Social Ties, Boulder/London 2003, S. 72.

[9] Lamont, Michèle, and Sada Aksartova (2002): Ordinary Cosmopolitanisms: Strategies for Bridging Racial Boundaries among Working Class Men. Theory, Culture and Society 19 (4), S 1-25.

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