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Migrationshintergrund überwinden reicht nicht: ein Appell für mehr Rassismusforschung und bessere Daten zu struktureller Ungleichheit

Kommentar von Dr. Merih Ateş, Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), Geschäftsstelle Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa)

– Einreichung am 05. August 2022

Die Debatte um Kategorien in der Rassismusforschung wird kontrovers geführt (Baumann et al. 2018, Ahyoud 2018). Kritik und Mahnung für einen achtsamen Umgang sind zwar wichtig, allerdings werden die Kategorien benötigt, um die Vielfalt innerhalb der Gruppen aufzuzeigen und gleichzeitig strukturelle Ungleichheiten sichtbar zu machen. Für letzteres müssen die personenbezogenen Daten allerdings mit strukturellen Kontextdaten angereichert werden. Nur in der Kombination können Sie Missbrauch – im Sinne einer Essentialisierung von Gruppen – verhindern und eine Wirkungsmacht zur Bekämpfung von Rassismus entfalten.

In diesem Sinne kommentiere ich den Initialbeitrag von Anne-Katrin Will „Anstelle des Migrationshintergrundes – Eingewanderte erfassen“.

Eingangs möchte ich nochmal betonen, dass ich der grundsätzlichen Kritik von Anne-Katrin Will am Konzept „Migrationshintergrund“ zustimme. Mit meinen eigenen Worten zusammengefasst lautet diese: Migrationshintergrund eignet sich nicht als objektive Beschreibung von Menschen. Mehr noch, im deutschen Kontext wird der Migrationshintergrund als analytischer Proxy für den Begriff der „Rasse“ herangezogen, verfehlt aber aufgrund seiner fehlenden Spezifität das Ziel, rassistische Diskriminierung und die daraus resultierende strukturelle Ungleichheit statistisch zu erheben und Forschung und Advocacy für soziale Gerechtigkeit zu ermöglichen.

In diesem Sinne zielt die Forderung Wills darauf, sich – neben der Verabschiedung vom Migrationshintergrund – auch von Alternativen Konzepten wie etwa „Eingewanderte und ihre direkten Nachkommen“ (vorgeschlagen von Fachkommission Integrationsfähigkeit) zu distanzieren, da auch diese die gleichen Probleme in bloß neuen Verpackungen fortschreiben. Als Konsequenz plädiert Anne-Katrin Will dafür, den Begriff „Eingewanderte“ für diejenigen Personengruppen zu reservieren, die selbst im Ausland geboren sind, was ausschließt, dass ihre in Deutschland geborenen Nachkommen unter dem Label Migration erfasst werden (können). Darüber hinaus gilt es nunmehr, die sozioökonomische Herkunft systematisch zu erheben und sie mit freiwilligen Selbstauskünften zu Fremdzuschreibungen und Selbstbezeichnungen zu verbinden, um den Zusammenhang zwischen der eigenen sozialen Herkunft und erfahrener Diskriminierung wissenschaftlich sichtbar zu machen.

Obwohl ich der Kritik am Migrationshintergrund ausdrücklich zustimme und dem Plädoyer für die Messung der Fremd- wie auch Selbstzuschreibung folge, möchte ich im Folgenden erstens das Argument stark machen, dass auch das Erheben von Fremd- und Selbstzuschreibungen mit spezifischen Herausforderungen einhergeht, die ein Festhalten an der Kategorie des Migrationshintergrunds – für eine Übergangsphase – notwendig macht. Hier geht es um bisher fehlende Standards in der Operationalisierung und um die Frage, wie komplex solche Messungen sein müssen um Vielfalt abbilden zu können. Zweitens möchte ich erläutern, warum die mittelfristige Überwindung des Migrationshintergrundes allein nicht ausreicht. Um strukturelle Ungleichheit entlang rassistischer Grenzziehungen untersuchen zu können, werden neben personenbezogenen Daten zusätzlich strukturelle Kontextdaten benötigt.

1. Ziele und Herausforderungen bei der Messung von Fremd- und Selbstzuschreibung

Für den deutschsprachigen Raum existieren bislang keine wissenschaftlich etablierten Skalen zur Messung von Fremd- und Selbstzuschreibung verschiedener sozialer Gruppen. Dabei sollte die Operationalisierung von Fremd- und Selbstzuschreibung m.E. zwei zentralen Kriterien erfüllen:

a) Sie muss es erlauben, Rassismus und die dadurch resultierenden Diskriminierungen und Ungleichheiten über die Zeit vergleichbar und analysierbar zu machen und es ermöglichen

b) diejenigen Gruppen in ihrer Vielfalt sichtbar zu machen, die bisher nicht sichtbar waren.

Um gemäß Kriterium a) Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen vergleichbar und analysierbar zu machen, eignet sich insbesondere die selbst wahrgenommene Fremdzuschreibung. Mit ihr ist die grundsätzliche Frage verbunden, ob Menschen aufgrund rassistisch markierter Merkmale (z.B. Hautfarbe, Name, Herkunft, Sprache, Religion oder Kultur) als das ‚Andere‘ und nicht-zugehörig zur sogenannten Mehrheitsgesellschaft betrachtet werden. Dabei ist es zentral, ob eine Zuschreibung zu einer von Rassismus betroffenen Gruppe vorliegt, nicht primär zu welcher Gruppe. Ungleichheitsanalysen auf Basis solcher Differenzenkategorien besitzen das theoretische Potenzial einer Essentialisierung und Naturalisierung betroffener Gruppen zuvorzukommen, da die Messung bereits impliziert, dass es nicht die vermeintlichen biologischen und/oder kulturellen Eigenschaften einer spezifischen Gruppe sind, die Ungleichheiten hervorrufen, sondern es die bestehenden Ungleichheiten selbst sind, die das Bild biologischer Differenz und kultureller Unvereinbarkeit verfestigen. Außerdem könnte so eine Analyse von strukturellen Ungleichheitsmustern über die Zeit das Verständnis schärfen, dass sich Gruppenbezeichnungen verändern, wenngleich rassistische Diskriminierung und Ausgrenzungen weiter fortbestehen können.

Um Kriterium b), die Sichtbarmachung von Gruppen in der amtlichen Statistik und in der Surveyforschung, gerecht zu werden, bietet sich die Selbstzuschreibung an, um die eigene Zugehörigkeit zu operationalisieren. Verglichen mit der Fremdzuschreibung stellt sich diese jedoch als deutlich schwieriger heraus. Obgleich für manche Personen übergeordnete Zuschreibungen funktionieren (z.B. Schwarz, muslimisch, asiatisch, jüdisch, osteuropäisch, Rom:nja und Sinti:zze), gilt es generell zu betonen, dass sich die eigene Identität aus einer Vielzahl verschiedener Faktoren zusammensetzen kann, die sowohl zeitlichen als auch situativen Schwankungen unterliegt. Für einige Personen können nationale oder religiöse Bezeichnungen von größerer Bedeutung sein, während sich andere auf spezifischere, auch quer durch die jeweiligen Communities laufende Gruppen berufen können, um auf ihren jeweiligen Minderheitenstatus aufmerksam zu machen. Mir persönlich wäre in einer Befragung zum Beispiel wichtig, dass ich mich als Alevit und Kurde sichtbar machen kann und nicht zu übergeordneten Kategorien subsumiert werde. Diese detaillierte Sichtbarmachung ist auch deshalb wichtig, weil spezifische Gruppen, spezifischen Rassismen ausgesetzt sind.

Angesichts dieser Herausforderungen in der Operationalisierung, stimme ich an dieser Stelle der ersten Replik von Ludger Preis zu, dass die Erfassung der Selbstzuschreibung eine Vielzahl verschiedener Indikatoren notwendig macht. Nur so kann die Selbstzuschreibung umfassend erhoben und in der Analyse dazu verwendet werden, die Vielfalt innerhalb von Rassismus betroffener Gruppen aufzuzeigen und so ihre Homogenisierung zu de-konstruieren. Zu diesen Indikatoren gehört m.E. mindestens die Religionszugehörigkeit und Religiosität, die Zugehörigkeit zu einer marginalisierten Gruppe innerhalb einer von Rassismus betroffenen Gruppe, die Sprache (dazu zählt auch das nicht-sprechen können der Herkunftssprache) wie auch die nationale und supranationale Identität/Zugehörigkeit. Dazu können aber auch die Kategorien Migrant:in oder Ausländer:in gehören, die möglicherweise auch für das Selbstbild der Nachkommen von Eingewanderten Menschen relevant sind. Nun ließe sich gewiss argumentieren, dass das daran liegt, dass die Begriffe verwendet werden und sich die Debatten und Diskurse in Deutschland an diesen Konzepten aufhängen. Dies kann allerdings auch für Selbstzuschreibungen zu rassifizierten Gruppen gelten: sie können das Produkt von rassistischer Fremdzuschreibung sein (Spielhaus 2011), auch wenn sie durch Empowerment wieder angeeignet werden.

Aus diesen Überlegungen folgen zwei Argumente, warum der Migrationshintergrund zumindest für eine Übergangsphase weiterhin erhoben werden sollte. Erstens, die empirische Forschung muss im Vergleich zum Migrationshintergrund erst noch zeigen, mit welchen Messungen/Operationalisierungen von Fremdzuschreibung strukturelle Ungleichheit besser erfasst werden können. Allerdings sollte der Migrationshintergrund nicht länger als Goldstandard (Default-Kategorie) zur Untersuchung von rassistischer Diskriminierung und Ungleichheit zu verwenden. An dieser Stelle spielt auch der Attributionsfehler, auf den Anne-Katrin Will hinweist, eine wichtige Rolle. Defizite und Förderbedarfe müssen explizit gemessen und nicht pauschal sozialen Gruppen zugeschrieben werden, unabhängig davon, ob sie durch den Migrationshintergrund oder die Fremdzuschreibung operationalisiert werden. Zweitens muss die Messung der Selbstzuschreibung die Vielfalt der identitätsstiftenden Kategorien abbilden, einschließlich des Migrationshintergrundes.

2. Strukturelle Daten für strukturelle Probleme

Um die Essentialisierung von rassifizierten Gruppen (gemessen durch die Fremd- und Selbstzuschreibung) zu verhindern, muss die Forschung untersuchen können, dass Gruppenunterschiede nicht kausal auf die Eigenschaften der Gruppen selbst zurückgeführt werden können, sondern durch strukturellen und institutionellen Rassismus entstehen. Deshalb stimme ich auch hier dem Initialbeitrag zu, dass neben der Fremd- und Selbstzuschreibung ausführliche Daten zur sozialen Klasse benötigt werden. Dieser Debatte möchte ich abschließend zwei Anmerkungen hinzufügen:

A) Wenn wir explizit durch Rassifizierung entstandene Gruppen – also „Rasse“- erheben, dann benötigen wir für den deutschen Kontext theoriegestützte Definitionen für “Rasse“. Diese haben nämlich Auswirkungen auf die Modellierung statistischer Zusammenhänge. Nehmen wir an, wir wollen den Zusammenhang von „Rasse“ und Gesundheit in einer Regressionsanalyse untersuchen. Sind die Variablen Bildung und Einkommen einer Person exogene Faktoren (confounder), die wir kontrollieren müssen, um dann von den Residuen auf Rassismus zu schließen? Oder sind Bildung und Einkommen Teilaspekte von „Rasse“ und somit endogen? Das Argument ist, dass der Prozess der Rassifizierung (und somit die Zuschreibung zu einer „Rasse“) bereits zum Beginn des Lebens erfolgt und alle weiteren Faktoren wie Bildung und Einkommen nachgelagert sind. Ihre Kontrolle würde somit zu einem post-treatment Bias führen, wodurch der „wahre“ Einfluss von „Rasse“ auf Gesundheit unterschätzt wird (Sen and Wasow 2016).

Für die Public Health Forschung (aber auch darüber hinaus) in den USA schlägt die Harvard-Professorin und Aktivistin Nancy Krieger daher folgende Richtlinie vor, die ich hiermit auch in die deutsche Debatte einbringen möchte:

Proposal/part 1 is to implement enforceable requirements that all US health data sets and research projects supported by government funds must explicitly explain and justify their conceptualization of racialized groups and the metrics used to categorize them. (Krieger 2021: 5)

In diesem Essay erläutert Krieger auch, wie Statistiken über „racial categories“ in der Vergangenheit wie in der Gegenwart (auch von der Wissenschaft) genutzt werden, um Betroffene zu schädigen und Rassismus zu (re)produzieren und warum es daher so wichtig ist, entsprechende Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Dies gilt auch und besonders für Deutschland.

B) Das oben beschriebene Problem entsteht, wenn wir versuchen den kausalen Effekt von „Rasse“ zu identifizieren, wobei es eigentlich darum geht, die kausalen Effekte von Rassismus zu identifizieren. Dafür benötigen wir aggregierte Strukturdaten über Räume (z.B. auf Ebene der Bundesländer, kommunaler Ebene oder durch Geocodes auf kleinräumiger Ebene), Institutionen (z.B. Schulen, Hochschulen, Sicherheitsbehörden, Justiz, Verwaltungsämter usw.) und die Wirkungsweise von Gesetzen in verschiedenen Politikfeldern auf betroffene Gruppen. Auch hier lautet der entsprechende Vorschlag Kriegers:

Proposal/part 2 is that any individual level health data by membership in racialized groups must also be analyzed in relation to relevant data about racialized societal inequities. As suggested […], this minimally means including both diverse metrics for socioeconomic position (at the individual- and community- levels) and exposure to structural racism. (Krieger 2021: 5)

Daran orientierend plädiere ich dafür, dass die Debatte um den Migrationshintergrund, die Fremd- wie auch Selbstzuschreibung mit folgenden Fragen kombiniert werden muss: Welche aggregierten Indikatoren benötigen wir, um strukturellen und institutionellen Rassismus zu messen, und wie können wir diese ebenfalls in die amtliche Statistik integrieren?  

Abschließend fasse ich zusammen: Nur den Status „Eingewanderte“ zu erheben reicht nicht aus. Alternativen zum Migrationshintergrund müssen erst im Vergleich dazu zeigen, dass Sie sich besser zur Analyse von Ungleichheit und Diskriminierung eignen. Außerdem kann auch für Nachkommen der Migrationshintergrund als identitätsstiftende Kategorie wirken. Selbst- und Fremdzuschreibungen müssen in Kombination mit Daten zu strukturellem und institutionellem Rassismus und Ungleichheit erhoben werden, dies könnten z.B. die regionale Verteilung folgender Angaben sein: Daten zum Ausmaß von racial profiling; das Ausmaß von Hasskriminalität; der Anteil von Jugendlichen, die von Rassismus betroffen sind, auf dem Gymnasium (relativ zur Bevölkerungszusammensetzung); Einkommensdisparitäten zwischen Gruppen oder Ausmaß der Sanktionen gegen verschiedene Gruppen im Hartz IV System.

 

Literatur

Ahyoud, Nasiha; Aikins, Joshua Kwesi; Bartsch, Samera; Bechert, Naomi; Gyamerah, Daniel; Wagner, Lucienne (2018): Wer nicht gezählt wird, zählt nicht. Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten in der Einwanderungsgesellschaft – eine anwendungsorientierte Einführung. Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership, Citizens For Europe (Hrsg.), Berlin. Online verfügbar: http://www.vielfaltentscheidet.de/publikationen

Baumann, Anne-Luise; Egenberger, Vera; Supik, Linda (2018): Erhebung von Antidiskriminierungsdaten in repräsentativen Wiederholungsbefragungen. Bestandsaufnahme und Entwicklungsmöglichkeiten. Hg. v. Antidiskriminierungsstelle des Bundes.

Krieger, Nancy (2021): Structural Racism, Health Inequities, and the Two-Edged Sword of Data: Structural Problems Require Structural Solutions. Front. Public Health 9:655447. doi: 10.3389/fpubh.2021.655447

Sen, Maya; Omar, Wasow (2016): Race as a Bundle of Sticks: Designs that Estimate Effects of Seemingly Immutable Characteristics. Annual Review of Political Science 19:499-522. Doi: 10.1146/annurev-polisci-032015-010015

Spielhaus, Riem (2011): Wer ist hier Muslim? Die Entwicklung eines islamischen Bewusstseins in Deutschland zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung. Würzburg (Ergon).

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