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Sprachen nach Bedarf statt Deutsch nach Vorschrift: Ein Plädoyer für einen pragmatischen Umgang mit Mehrsprachigkeit

Initialbeitrag von Judith Purkarthofer (Universität Duisburg-Essen) und Christoph Schroeder (Universität Potsdam)[1], 03.07.2023

In wohlmeinenden Infobroschüren und Schulordnungen lesen wir Variationen des folgenden Satzes: „In Deutschland sprechen wir Deutsch, damit wir uns alle verstehen.“ In politischen Programmen lautet die Variation „Sprache ist der Schlüssel zur Integration“, wobei mit „Sprache“ durchweg „Deutsch“ gemeint ist.

Was steckt aber hinter der Idee, Teilhabe erfordere nur und genau eine bestimmte Sprache? Was ist dran an der Annahme, Beteiligung an demokratischen Prozessen funktioniere nur mithilfe jeweils einer Einzelsprache – ob Deutsch, Englisch, Griechisch, Türkisch…?

Mit dieser RfM-Debatte möchten wir genau diese Frage anstoßen: Wie kann es gelingen, Anforderungen an Sprecher*innen und ihre Ein-/Mehrsprachigkeit nicht als Einpassung in einen Rahmen zu formulieren, sondern als Aushandlung in einem oder mehreren Kontexten?

In der RfM-Debatte von 2020 wurden Sprachen als Ressourcen thematisiert: Mehrsprachige Schüler*innen sollten ihre Sprachkenntnisse endlich auch im regulären Curriculum wiederfinden und im schulischen Rahmen ausbauen können. Diese Forderungen sind aktuell wie damals – und unsere Debatte schließt nun dort an, wo es nicht nur um die schulische Anerkennung von bestimmten Sprachen geht, sondern die mehrsprachige Verfasstheit der Gesellschaft selbst debattiert werden soll.

Welche Erfordernisse stellt ein wahrlich mehrsprachiges Verständnis an die Gesellschaft als Ganzes und welche spezifisch an jene, die mit der Vermittlung und dem Lehren von Sprachen befasst sind? Welche Kompetenzen – im Humboldtschen Sinn also die Fähigkeiten, aus endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch zu machen – brauchen Sprechende und was müssen Institutionen lernen, und wer ist für die Förderung ihrer Vermittlung verantwortlich?

Wir möchten in diesem Initialbeitrag bereits auf einige konkrete Beispiele blicken – für gelungene und herausfordernde Aushandlung:

In einer Sprache aneinander vorbeireden

Als Voraussetzung für gelungene Partizipation gilt üblicherweise, dass sich alle direkt miteinander verständigen können. Für diese Verständigung bedarf es einer, und genau einer, geteilten Sprache. Aber ist diese Erwartung tatsächlich zutreffend? Nähern wir uns der Frage mit Beispielen aus zwei Kontexten.

Auf dem Essener Kennedyplatz, einem zentralen Platz in der belebten Essener Innenstadt, versammelt sich eine Gruppe. Zwei Personen halten Unterlagen und einem großen Plan in ihren Händen. Die Gruppe führt eine Begehung durch, bei der über die Umgestaltung der östlichen Ecke des Platzes beraten werden soll. Die Mitarbeiterin des städtischen Bauamts begrüßt die Anwesenden. Der Bauleiter stellt die Pläne für den Platz und die geologischen Möglichkeiten dar. Der Architekt spricht über neue Nutzungskonzepte und urbane Öffentlichkeiten, die sich den Raum bedürfnisorientiert aneignen sollen. Die Polizistin spricht über die Möglichkeit, sich in einem hell erleuchteten Raum zu bewegen. Die Anwohnerin möchte wissen, ob es einen neuen Baum geben wird. Der Jugendliche spricht von der Schwierigkeit, sich außerhalb kommerzialisierter Orte zu treffen. Die Polizistin spricht von Lärm und Müll. Die Anwohnerin hat Angst, dass die Jugendlichen ihren Hund gefährden. Der Bauleiter betont die kosteneffiziente Planung. Die Amtsmitarbeiterin bittet um Rückmeldungen zum Entwurf. Der Architekt erklärt das Nutzungskonzept. Die Anwohnerin wünscht sich einen Baum. Die Amtsmitarbeiterin schließt die Begehung mit den Worten: „Wenn keine Einwände bestehen, dann freuen wir uns auf die Umsetzung“. Die Amtsmitarbeiterin verbucht das Ereignis als gelebte Demokratie. Die Anwohnerin und der Jugendliche verlassen den Platz mit dem Gefühl, nicht gehört worden zu sein. Der Kennedyplatz wird aus Kostengründen schließlich doch nicht umgestaltet.

In der beschriebenen Situation wurde eine Sprache verwendet. Trotzdem fällt die Verständigung schwer. Unterschiedliche Referenzräume, Vorkenntnisse und Wissensbestände machen es den Anwesenden schwer, gleichermaßen an dem Austausch teilzunehmen. Die Fachsprachen in Bauwesen und Architektur sind selbst für Personen mit guten Deutschkenntnissen nicht einfach zu verstehen: Wer einen Einspruch gegen einen Umbauplan einlegt, tut dies nicht mit dem allgemeinen Inventar der deutschen Sprache, sondern wendet institutionelle Regeln und Konventionen der Kommunikation an, die in einem solchen institutionellen Rahmen in Sprachen der europäischen Nachbarländer wahrscheinlich ähnlicher sind, als es die verschiedenen Sprachen vermuten lassen. So versteht der belgische Stadtplaner die deutsche Stadtplanerin wohl besser als der jugendliche Teilnehmer, der ebenfalls in Essen aufgewachsen ist.

Das Beispiel der Begehung zeigt also, dass ein Bezug auf Sachverhalte in derselben Sprache für sich allein kein Garant für Partizipation ist.

Mehrsprachig miteinander reden

Das folgende Beispiel stammt von einem Wochenmarkt in Berlin, Stadtteil Kreuzberg. Es handelt sich um einen Markt, auf dem Menschen mit ganz unterschiedlichen sprachlichen Hintergründen sich begegnen und miteinander den Austausch von Waren verhandeln – meist erfolgreich. In dem Beispiel erleben wir den Verkauf einer mit Kartoffeln gefüllten Teigtasche. Die Teigtasche soll nicht mit Spinat, sondern mit Kartoffeln gefüllt sein, und sie soll erwärmt werden. Vom Standpunkt einzelner Sprachen aus gesehen, geschieht das Ganze in drei Sprachen, Englisch, Spanisch, Deutsch, und zwar wahrscheinlich ohne dass eine dieser Sprachen auf irgendeinem Kompetenzlevel definierbar wäre: 

01 Verkäufer: Hallo,
02 Kunde: hello! (.) Eh .. what are the ingredients of this
03 Verkäufer: eh, das is (.) eh spinat – cheese, cheeseeh.. patata patata
04 Kunde: but I don’t want
05 (.) I don’t want with eh spinaches (-) I don’t like.
06 Verkäufer: Okay
07 Kunde: with other (.) with other thing?
08 Verkäufer: cheese (.)
09 Kunde: and this?
10 Verkäufer: das is meat (-) mit mit patata (-) kartoffel
11 Kunde: <<nicht>> si vale!
12 Verkäufer: vale?
13 Kunde:
14 Verkäufer: eh: hot? <<zeigt auf den Toaster>>
15 Kunde: sí please.

Beispiel aus: Duman Çakır (2022: 14-15, hier die Transkription vereinfacht)

Die Teilnehmenden sind in dieser Situation klar an einem erfolgreichen Ausgang des Geschehens interessiert – in jeder Reaktion wird etwas aus der vorherigen Aussage wieder aufgenommen, durch Gesten oder den Rückgriff auf einen weiteren passenden Begriff bestätigt und schließlich in gemeinsamer Anstrengung verbunden. Die einzelnen Wörter für sich, das, was sich einer Einzelsprache zuordnen ließe, sind zur Verständigung nicht ausreichend, aber in der Summe wird ein kommunikatives Ziel erreicht.

Sprachenpolitische Regelungen für Verständigung und Integration?

Oben haben wir zwei Beispiele aus der urbanen Aushandlung in unmittelbaren Begegnungen gewählt. In institutionalisierten Kontexten geht man weiter und schafft sprachenpolitische Regeln. Diese geben vor, dass sie der Verständigung, ja der Integration dienen; sie enthalten aber Widersprüche, die diese Vorgaben infrage stellen. Nochmals zwei Beispiele:

An deutschen Universitäten sind zur Zulassung für BA/MA-Studiengänge Sprachkompetenzen in Deutsch auf Niveau C1 des Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER) notwendig und nachzuweisen – das entspricht ungefähr Abiturniveau in der ersten lebenden Fremdsprache, wenn das schulische Lernen sehr erfolgreich war.[2] Wer in Deutschland universitär lernen möchte, muss sich also zuerst auf den Erwerb der deutschen Sprache konzentrieren, bevor er*sie zum Diskurs zugelassen wird. Für inhaltlich üblicherweise anspruchsvollere Aufgaben im Rahmen eines PhD/Doktoratsstudiums bestehen diese Anforderungen aber nicht. Wer also thematische Expertise bewiesen hat, kann in den (üblicherweise mehreren) Sprachen am wissenschaftlichen Diskurs teilnehmen, auf die er sich mit seinen Kolleg:innen gemeinsam verständigt.

Ähnliches gilt für aufenthaltsrechtliche Regelungen: Als Voraussetzung für eine Niederlassungserlaubnis in Deutschland müssen Personen aus Drittstaaten Deutschkenntnisse auf dem mittleren Niveau B1 des GER nachweisen. Diese Bedingung gilt aber nicht für EU- bzw. EWR-Staatsangehörige und Personen, die als ‚Hochqualifizierte‘ oder mit eigenen Investitionsmitteln einreisen. Ihre Partizipation ist also, so scheint es, weniger sprachgebunden.[3] Braucht also, wer Geld hat, keine Kenntnisse der deutschen Sprache?

Sprachkenntnisse allein sind kein Schlüssel zu Teilhabe und Verständigung

Wir bezweifeln, dass Deutschkenntnisse im Sinne des Gesetzes tatsächlich der vielgerühmte ‚Schlüssel‘ sind, zu dem sie in der Integrations- und Bildungsdebatte immer wieder gemacht werden (ausführlicher dazu Plutzar 2010a). Natürlich sind Deutschkenntnisse förderlich, um an einem wissenschaftlichen Diskurs zu partizipieren, um an einer öffentlichen Debatte in Deutschland teilzunehmen, um im Berufsleben zu agieren, um sich als Elternteil für eine gute schulische Förderung des Kindes einzusetzen. Aber Hindernisse oder Herausforderungen der Verständigung können nicht allein an sprachlichen Kompetenzen im Sinne eines abgrenzbaren und abtestbaren Regelsystems und Wortschatzes festgemacht werden. Und es werden andere Hürden der Verständigung überdeckt, denen vor allem eine ungleiche Verteilung von Macht und asymmetrische Diskurse zugrunde liegen (Bommes 2006): Nicht nur was Menschen sagen, sondern auch wie sie es sagen, hat Auswirkungen auf die Hindernisse, denen sie begegnen.[4] Gleichzeitig wird mit dem Testsystem denjenigen, die über die erwarteten sprachlichen Kompetenzen nicht verfügen, dies als persönliches Versagen angelastet.

Das vordergründige Primat der offiziellen Amtssprache, das oft isoliert von den tatsächlichen kommunikativen Praktiken etabliert ist, wird in der Praxis natürlich durch eine Verwendung anderer Sprachen unterlaufen. Gleichzeitig aber wird auch dies wieder einer hierarchischen Bewertung unterzogen. Wer neben dem Deutschen über eine Kompetenz in einer institutionell zur „Fremdsprache“ geadelten Sprache verfügt, dem stehen Mechanismen zur Zertifizierung und Anerkennung sowie Räume zur kontrollierten Anwendung dieser Kompetenz offen. Die Sprachkenntnisse von mehrsprachig im Türkischen, Arabischen oder Ukrainischen aufgewachsenen Kindern werden dagegen als potentiell störendes Gefahrengut wahrgenommen und Regulierungen unterworfen, die bis zum Verbot der Verwendung auf dem Schulhof reichen (vgl. Wiese, Tracy & Sennema 2020). Dabei wird argumentiert, dass niemand auf dem Schulhof beleidigt werden soll (oder wenn, nur auf Deutsch). Anstatt sich mit der erwünschten oder unerwünschten Handlung zu beschäftigen, wird das Problem auf die Verwendung einer bestimmten Sprache verschoben. Selbst wenn die Praxis des schulischen Sprachverbots mittlerweile als rechtwidrig eingestuft wird,[5] werden die Sprecher*innen von derart verbotenen Sprachen unabhängig von ihren sprachlichen Handlungen einem Generalverdacht aussetzt.

Aushandlung in einem Kontext und Verständigung über Prinzipien

Der Soziologe Heinz Bude (2020) beschreibt in seinem Nachdenken über das Wesen einer ‘inklusiven’ Gesellschaft die Spannung zwischen dem Spiel heterogener Lebenspraxen und der Gesellschaft als öffentlichem Raum, in dem sich Einzelne begegnen und sich aufeinander beziehen können. Er bezieht sich auf Jürgen Habermas‘ Konzept der Praktiken der Einbeziehung des*der Anderen. Diese ermöglichen es, dass wir uns trotz individualisierter Lebensläufe – und wir möchten ergänzen, trotz ‘verschiedener Sprachen’ – als Individuen begegnen. Bude beschreibt diese Praktiken mit einem Hinweis auf die Menschenrechte, die uns unabsprechbare Rechte, unter anderem auf freie Wahl der Umgangssprache und ein ungestörtes Familienleben, zusichern. Und schließlich bringt er eine dritte Ebene ins Spiel, in der er die heilende Wirkung eines möglichst ungezwungenen Umgehens miteinander verortet, das ein Sich-einander-Aussetzen zum Zweck der gegenseitigen Wahrnehmung ermöglicht. Für Bude bedeutet Vergesellschaftung „nicht mehr Einpassung in einen Rahmen und Ausrichtung auf einen Wert, sondern Aushandlung in einem Kontext und Verständigung über Prinzipien” (Bude 2020, 102).

Diese Überlegungen lassen sich sehr gut auch auf die sprachliche Dimension anwenden. Deutlich wird dabei, dass Sprachfragen nicht per se als inklusiv oder exklusiv gelten können. Zugang und Teilhabe werden nicht per se durch Sprache ermöglicht, sondern durch kommunikative Praktiken, die sich um Austausch und Verständigung bemühen. Dabei kann Mehrsprachigkeit manche vor Probleme stellen – Einsprachigkeit stellt für andere Beteiligte allerdings ebenso eine Hürde dar (Gümüşay 2020).

Jede Begegnung kommunizierender Menschen ist bereits eine Aushandlung von Sprache(n) und sprachlicher Praxis, solange tatsächlich Verständigung das Ziel ist. Das gilt für Situationen der Einsprachigkeit ebenso wie auch für Situationen der Mehrsprachigkeit. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass wir in Beziehungen, sowohl mit Kindern wie auch mit Erwachsenen, über das Sprechen und Hören, Schreiben und Lesen, auch die Gestik und Mimik und neuerdings zusätzlich Emoticons, DeepL und Googletranslate kommunizieren – unabhängig von den Sprachen, in denen dies geschieht. Im Rahmen von familiären oder freundschaftlichen Verbindungen nehmen wir diese Multi-Modalität in Kauf, ja genießen vielleicht sogar das Einander-Entdecken, das mit dem Erforschen des Neuen einhergeht (Purkarthofer & Plutzar 2022). Und wie oben gezeigt, erleben wir auf Märkten vielfältige Situationen, in denen Menschen mit ganz unterschiedlichen sprachlichen Hintergründen miteinander ver- und aushandeln, welche Qualität eine bestimmte Verkaufsware hat, was sie kosten soll, wie sie funktioniert (Duman Çakır 2022).

Sprache nach Bedarf statt Sprache nach Vorschrift

Welche Utopien sind es nun, die sich uns in unserer mehrsprachigen Gesellschaft aufdrängen? Aus dem breiten Spektrum möglicher Felder wollen wir nur drei herausgreifen, die jeweils sehr umkämpfte Arenen der gesellschaftlichen Aushandlung darstellen.

Nehmen wir als Beispiel die Integrationskurse, ein gewaltiges, zentralisiert vom BAMF in die Wege geleitetes und kontrolliertes Projekt. Damit sollen Neuzugewanderte ohne zertifizierte Deutschkenntnisse an das Deutsche und, in den Alphabetisierungskursen, zusätzlich noch an die Schriftlichkeit (im Deutschen!) herangeführt werden. Das Curriculum der Kurse ist durchaus kommunikativ ausgerichtet (BAMF 2016). Die aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen fordern aber ein spezifisches Niveau (B1 des GER), das von den Teilnehmenden erreicht werden muss, und zwingen die Kurse angesichts der begrenzten Zeitressourcen, die den Teilnehmenden zugestanden werden, so zum „Teaching for the test“ (Plutzar 2010b). Die Idee der „Aushandlung“ würde hier bedeuten, von einer gesetzlichen Forderung nach ganz bestimmten und zertifizierten Deutschkenntnissen abzurücken und die Inhalte der Kurse tatsächlich stärker auszurichten an dem, was die Teilnehmenden wünschen und brauchen, auch in Zusammenarbeit mit den Kommunen und den Arbeitgeber*innen in der Region (Schroeder & Zakharova 2015). Insbesondere für die Alphabetisierungskurse, die unter anderem angesichts der extrem heterogenen Teilnehmenden als das große Sorgenkind im Integrationskurssystem betrachtet werden, würde das Abrücken von der gesetzlichen Sprachanforderung eine gewaltige Erleichterung bedeuten. So könnten Kurse auch mehrsprachig ablaufen und Teilnehmende zuerst an die Schriftlichkeit in der ihnen nächsten Sprache herangeführt werden (Marschke 2022). Im Mittelpunkt könnten die Fortschritte stehen, die die Teilnehmenden tatsächlich machen und die sich z.B. an der Schriftlichkeit in ihrer Lebenswelt orientieren (Schroeder et al. 2022).

Nehmen wir als ein weiteres Beispiel das der Schule und des Schulsystems. In unserer gesellschaftlichen Übereinkunft sollen alle Kinder gemäß ihren Möglichkeiten lernen und im Lauf von bis zu zwölf Jahren einen für sie geeigneten Schulabschluss erreichen. Nun wissen wir, dass aufgrund des monolingualen Habitus von Schulen diese Eignung nicht nur von den intellektuellen Fähigkeiten oder dem Fleiß von Kindern (und Eltern) abhängt, sondern auch von den sprachlichen Voraussetzungen maßgeblich beeinflusst wird. Aktuell bestimmen Sprachstandserhebungen (mit), wer wann oder auch (ab)gesondert unterrichtet wird. Neben der sozialen Stigmatisierung, die durch diese frühe Testung ausgelöst werden kann, ist vor allem der punktuelle und nur auf Deutsch ausgelegte Charakter dieser Tests zu beanstanden. Was wäre, wenn wir konsequent von den kindlichen Voraussetzungen ausgehen? Dann kann sich Schule (wie auch andere Bildungseinrichtungen) als wichtige unterstützende Instanz auf dem Weg zu Deutschkenntnissen, zu mathematischem Verständnis, zu sozialen Fähigkeiten verstehen, aber nicht als Bollwerk der Normgesellschaft, das durch Testung vor gefährlichen Einflüssen geschützt werden muss, um seine Aufgabe am ‘Normkind’ zu erfüllen. In manchen Schulformen wird diese Haltung schon praktiziert, konkret beschreibt z.B. Brigitta Busch (2021) eine Mehrstufenklasse in Wien, die nach solchen Prinzipien arbeitet. Damit werden die unterschiedlichen Wissensstände, die in jedem Fall bestehen, nicht mehr einzelnen Personen als Versäumnis angelastet.

Auch im Unterricht selbst kann das mehrsprachige Repertoire von Lehrenden und Lernenden fruchtbar gemacht werden, wenn für Rechercheaufgaben auch der Suche in verschiedenen Sprachen, der Austausch mit mehrsprachigen Personen und die Transfer- und Übersetzungsleistungen anerkannt werden, die vor allem mehrsprachige Kinder erbringen. Aktuelle Projekte wie die ‚Kleinen Bücher‘, die Kinder einer Wiener Mehrstufenklasse in einer von ihnen selbst gewählten Auswahl von Sprachen und sprachlichen Ressourcen verfassen, zeigen uns, wie in der Möglichkeit mehrsprachiger Aushandlung schließlich auch die Deutschkenntnisse profitieren (Busch 2021).

Nehmen wir schließlich das Beispiel der Freien Medien und Bürger*innenmedien. Neben den öffentlich-rechtlichen und privat-kommerziellen Medien erfüllen Freie Medien wichtige Aufgaben, gerade was die (Selbst-)Repräsentation von Vielfalt betrifft. Statt fixer sprachlicher Vorgaben gibt es hier Beiträge von verschiedenen Medienmacher*innen, die im Hinblick auf ihre Gäste und ihr Publikum Sprachentscheidungen treffen. Ähnlich wie die passende Musik gibt es dann die passenden, weil geteilten Sprachen im Interview, gefolgt von einer Zusammenfassung in einer anderen Sprache oder in einem anderen Stil. Für das Publikum ergeben sich so wichtige Erlebnisse, manche vertraut und manche als Herausforderung, um etwas über unsere Gesellschaft und die Beteiligung an ihr zu lernen.

Einpassen oder Aushandeln: Ausblick

In Beispielen aus einem mannigfaltigen Thema haben wir versucht, die Aushandlung von Mehrsprachigkeit und die Debatte darüber anzustoßen – und dabei auch selbst unsere Argumente und Verständnisse zu schärfen. In den folgenden Beiträgen wünschen wir uns weitere Einsichten in konkrete Kontexte und unmittelbare Begegnungen. So hoffen wir Herangehensweisen an unsere mehrsprachige Gesellschaft zu verhandeln, die die Vorstellung einer nationalstaatlichen Einsprachigkeit überwindet.

 

[1] Mit herzlichem Dank an die Kolleg:innen von der RfM-Debattenredaktion und Aylin Braunewell für hilfreiche Anregungen und Kritik.

[2] Wie zum Beispiel hier ausgeführt: https://www.uni-due.de/international/bewerbung.php#deutsch (zuletzt geprüft am 28.06.2023).

[3] Wie beispielsweise hier beschrieben: https://www.bmi.bund.de/DE/themen/migration/zuwanderung/arbeitsmigration/arbeitsmigration-node.html;jsessionid=819022BE399F92C76103D8436363E4A0.1_cid295#doc9392962bodyText6 (zuletzt geprüft am 28.06.2023)

[4] ‚Linguizismus‘ ist der Begriff, den İnci Dirim für Diskriminierungen von Menschen aufgrund ihrer Sprachen und Sprechweisen geprägt hat (vgl. Dirim 2010).

[5] Ein Freiburger Verwaltungsgerichtsurteil von 2022 bestätigt dies; ferner halten Verfassungsrechtler*innen diese Praxis für unzulässig (Zara 2015: 48-49).

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Der Beitrag ist hier als PDF abrufbar

Literatur

Bommes, Michael. 2006. Integration durch Sprache als politisches Konzept. In: Davy, Ulrike und Albrecht Weber, Hg. Paradigmenwechsel in Einwanderungsfragen. Baden-Baden: Nomos, S. 59–86.

Bude, Heinz. 2020. Begegnung und Berührung. Was für eine Gesellschaft wäre eine ‚inklusive‘ Gesellschaft? In: Heinrich Böll Stiftung e.V., Hg. Öffentlicher Raum! Politik der gesellschaftlichen Teilhabe und Zusammenkunft. Frankfurt: Campus, S. 99-105.

Busch, Brigitta. 2021. Mehrsprachigkeit. Wien: UTB.

Dirim, İnci. 2010. „Wenn man mit Akzent spricht, denken die Leute, dass man auch mit Akzent denkt oder so.“ Zur Frage des (Neo-)Linguizismus in den Diskursen über die Sprache(n) der Migrationsgesellschaft. In: Mecheril, Paul, İnci Dirim, Mechtild Gomolla, Sabine Hornberg und Krassimir Stojanov, Hg. Spannungsverhältnisse. Assimilationsdiskurse und interkulturell-pädagogische Forschung. Münster: Waxmann, S. 91-114.

Duman Çakır, İrem. 2022. Negotiation of resources in everyday activities of a multilingual Berlin street market: a linguistic ethnography approach. In: Multilingua – Journal of Cross-Cultural and Interlanguage Communication 42 (3), S. 395-420.

Gümüşay, Kübra. 2020. Sprache und Sein. München: Hanser.

Marschke, Britta, Hg. 2022. Handbuch der kontrastiven Alphabetisierung. Unter Mitarbeit von Sedigheh Alizadeh Lemjiri, Nadine Al-Khafagi, Tuǧba Bektaş, Mary Matta, Abed all Gaffar Mohamed und Zeynep Sezgin Radandt. Studien Deutsch als Fremd- und Zweitsprache 14. Berlin: Erich Schmidt.

Plutzar, Verena. 2010a. Sprache als „Schlüssel“ zur Integration? Eine kritische Annäherung an die österreichische Sprachenpolitik im Kontext von Migration. In: Langthaler, Herbert, Hg. Integration in Österreich. Sozialwissenschaftliche Befunde. Innsbruck, Wien und Bozen: Studien Verlag, S. 121-140.

Plutzar, Verena. 2010b. Zuwanderung und Sprachpolitik der deutschsprachigen Länder. In: Krumm, Hans-Jürgen, Christian Fandrych, Britta Hufeisen und Claudia Riemer, Hg. Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. German as a foreign and second language. Berlin: De Gruyter, S. 107–123.

Purkarthofer, Judith und Verena Plutzar. 2022. Sprachen sind wie Beziehungen, man muss sie pflegen. In: Gruber, Oliver und Michael Tölle, Hg. Fokus Mehrsprachigkeit. Wien: ÖGB, S. 154-164.

Schroeder, Christoph und Natalia Zakharova. 2015. Sind die Integrationskurse ein Erfolgsmodell? Kritische Bilanz und Ausblick. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 35 (8), S. 257–262.

Schroeder, Christoph, Dorotheé Steinbock, Miguel Rezzani und Cosima Lemke-Ghafir. 2022. Für eine Reform der „Integrationskurse mit Alphabetisierung“. In: Friedrich-Ebert-Stiftung, Hg. FES impuls. Online verfügbar unter https://library.fes.de/pdf-files/a-p-b/19284.pdf, zuletzt geprüft am 28.06.2023.

ZARA – Zivilcourage und Anti Rassismus-Arbeit, Hg. 2015. Rassismus Report. Online verfügbar unter https://assets.zara.or.at/media/rassismusreport/rassismus-report-2015.pdf, zuletzt geprüft am 28.06.2023.

Wiese, Heike, Rosemarie Tracy und Anke Sennema. 2020. Deutschpflicht auf dem Schulhof? Warum wir Mehrsprachigkeit brauchen. Berlin: Duden-Verlag.