Kommentar zum Beitrag für eine RfM-Debatte 2020
„Drei Sprachen sind genug fürs Abitur! Ein Reformvorschlag für den Abbau der Diskriminierung von mehrsprachig Aufgewachsenen bei Schulabschlüssen“ von Frau Dita Vogel, Universität Bremen
Autorin des Kommentars: Dr. Yazgül Şimşek, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Mitglied im Rat für Migration, 01.07.2020
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Aufwertung der Herkunftssprachen auf jeden Fall, aber nicht notwendig auf Kosten weiterer Sprachen
Angesichts der Tatsache, dass sich viele Mythen und Irrtümer über Mehrsprachigkeit in unserer Gesellschaft – bei Eltern, Lehrkräften, in der Bildungspolitik, in öffentlichen Diskussionen – weiter hartnäckig halten (s. Tracy 2011) und dass den mehrsprachigen Schüler*innen z.T. bereits die deutsche Sprache als Kompetenz abgesprochen wird und eine Defizitperspektive vorherrscht, kann ein Vorschlag zur Veränderung und Verbesserung des Bildungssystems wie der von Frau Dita Vogel von wissenschaftlicher Seite nur positiv aufgenommen werden.
Eine konstruktive Debatte darüber, wie Mehrsprachigkeit mehr Raum in der Institution Schule einnehmen kann und unbedingt sollte, erscheint in jedem Fall nötig. Dass die Mehrsprachigkeit der in Deutschland aufwachsenden und zugewanderten Kindern- und Jugendlichen als Ressource im Schulsystem nicht genutzt wird, ist ein Umstand, auf den die Forschung seit langer Zeit hinweist, bedenke man beispielsweise Ingrid Gogolins Prägung von dem „monolingualen Habitus der multilingualen Schule“ (s. Gogolin 1988, 1994).
Zur Mehrsprachigkeit
Insbesondere aus sprachwissenschaftlicher Perspektive ist unbestritten, dass es für mehrsprachige Kinder und Jugendliche von großem Vorteil wäre, die Sprachen, die sie in der sozialen Domäne Familie erworben haben, auch für problemlösendes Lernen in der Schule zu nutzen, und dies nicht nur in der Sekundarstufe I und II, sondern auch bereits in der Grundschule (vgl. Rehbein 2011). Ergebnisse linguistischer Untersuchungen zeigen deutlich auf, dass Mehrsprachige sich durch größere mentale Flexibilität und ein vielseitigeres Spektrum an Fähigkeiten auszeichnen (Bialystok et al. 2012).
Die Forderung Dita Vogels, in der Institution Schule alle von Schüler*innen mitgebrachten sprachlichen Ressourcen zuzulassen und damit das vorhandene Lernpotential auszuschöpfen, ist nicht völlig neu. Sie findet sich beispielsweise bereits in dem Vorschlag von Rosemarie Tracy, ein Fach Sprache und Kommunikation (s. Tracy 2011) einzuführen. Dass das Lernen bestmöglich unter Nutzung aller verfügbarer Ressourcen gelingen kann, zeigt auch Katharina Brizić:
„Das mitgebrachte ‚Eigene‘ darf nicht zu kurz kommen, da auf ihm jedes Lernen aufbaut. Und gerade der Spracherwerb funktioniert bei Kindern ganzheitlich. Gelernt wird also am erfolgreichsten dann, wenn das Eigene am wenigsten verheimlicht oder verschwiegen werden muss […].“ (Brizić 2006, 39)
Die Lernmotivation aller Schüler*innen zu stärken, Gelegenheiten des gemeinsamen sprachlichen Lernens von Schüler*innen aller Erstsprachen zu schaffen, weil dies auch über die Sprachfächer hinaus das fachliche Lernen fördert, fließt gegenwärtig vermehrt in die Lehramtsausbildung mit ein.
Wie sind aber weitreichendere Veränderungen in der Struktur der Institution Schule, die sie besser an die sprachliche Vielfalt anpassen und die Aktanten der Institution handlungsfähiger machen kann, zu bewerkstelligen? In dieser Hinsicht ist der Vorschlag von Frau Vogel ein höchst begrüßenswerter Vorstoß.
Herkunftssprachen aufwerten
Der Weg hin zu einer auch offiziell, nicht nur de facto mehrsprachigen mehrsprachigen Gesellschaft führt über eine allmählich sich vollziehende Einbeziehung der Gebrauchssprachen in einer Gemeinschaft in die institutionellen Abläufe und den dort ablaufenden Verständigungsprozessen (vgl. das Helix-Modell der Mehrsprachigkeit bei Rehbein (2012). Der Vorschlag einer gesetzlichen Festschreibung zur Berücksichtigung der Erstsprachen der Schüler*innen bei Schulabschlüssen birgt das Potenzial einer Veränderung hin zu der Schule als einer mehrsprachigen Institution, zur Anerkennung der Minderheitensprachen und führt z.T. im Sinne des Helix-Modells zur mehrsprachigen Gesellschaft.
In der Tat könnte allein die Debatte über eine entsprechende gesetzliche Vorschrift dazu führen, die oben genannten wissenschaftlichen Erkenntnisse stärker sichtbar zu machen. Diskussionen und Überlegungen dazu, wie eine solche gesetzliche Vorschrift praktisch umzusetzen wäre, könnten zu einer verstärkten Suche nach ergänzenden Lösungen führen. Eine gesetzliche Verankerung hat sicherlich auf andere Bereiche der Gesellschaft die Signalwirkung, dass es bei der Förderung von Mehrsprachigkeit nicht um eine kurzfristige Aufgabe geht, sondern dass in diesem Feld grundsätzliche und auf die Zukunft gerichtete Konzepte „alternativlos“ sind (Wiese/Tracy & Sennema 2020, 73).
Zu bedenken sind aber folgende Punkte:
Wenn wir uns (zumindest in der Wissenschaft) über das Ziel einig sind, die Sprachkenntnisse von Schüler*innen in jeder Sprache aufzuwerten und damit einen Schritt hin zu einer mehrsprachigen Gesellschaft zu gehen, dann sollte ein entsprechendes Schulmodell alle Schüler*innen im Blick haben und sich nicht nur auf diejenigen konzentrieren, die zu Hause eine erste Sprache zusätzlich zum Deutschen lernen. Dies bedeutet, dass die Schüler*innen auf jeden Fall die Wahl haben sollten, in welcher Sprache sie sich prüfen lassen wollen, auch diejenigen mit Deutsch als Erstsprache. Denn letztlich zielt der Vorschlag auf die „Abschaffung der Diskriminierung“ als positiven Effekt. Diesen positiven Effekt erreicht man, indem den Schüler*innen vermittelt wird, dass es kein ‚Türkisch‘ gibt und dass es kein ‚Deutsch‘ gibt u. Ä., sondern dass es in der Schule eine Lerngemeinschaft gibt.
Weiterhin mag eine gesetzliche Verordnung mit positiven Effekten verbunden sein, was Mythen und Irrtümer über Sprachen und Mehrsprachigkeit angeht. Jedoch darf man sich nicht zu viel versprechen und glauben, dass auch soziale Heterogenität und negative Einstellungen zu Migration und Mehrsprachigkeit damit schnell abgebaut werden könnten.
Die bezüglich der Realisierbarkeit wichtigste Frage (aus sprachwissenschaftlicher Sicht) ist: Wäre es für die Schüler ein Gewinn, wenn eine rechtliche Festlegung sie von der Pflicht einer zweiten Fremdsprache befreien würde? Oder anders gefragt: Sind Fremdsprachenanforderungen tatsächlich eine Hürde für Schulabschlüsse? Diese Komponente des Vorschlags, die die Herkunftssprache gegen die zweite Fremdsprache in Konkurrenz setzt, muss stark hinterfragt werden. Derzeit ist nicht untersucht, ob es wirklich eine zeitliche Komponente ist, die z.B. neuzugewanderte Jugendliche daran hindert, sich „auf Deutsch und Mathematik zu konzentrieren“ wie es im Vorschlag heißt. Es sollte nicht darum gehen, die Fremdsprachen abzubauen, sondern die Aufnahme der Familiensprachen in den schulischen Unterricht zu fördern. Stellte man sie vor die Wahl, würden Schüler*innen im Falle des ersten Abschlusses sich wahrscheinlich für das Englische entscheiden, da ihnen sicher das höhere Prestige und die Funktion des Englischen als Lingua Franca bewusst sein dürfte. Es ist nicht zu vernachlässigen, dass auch die Fremdsprachen Ressourcen bilden, die nicht zwecklos aufgebaut werden. Für Kinder und Jugendliche ist es durchaus möglich, Kompetenzen in mehr als drei Sprachen aufzubauen. Zur Aufwertung der Herkunftssprachen im Bildungssystem bestünde die Herausforderung für die Institution Schule darin, ihre Ressourcen so zu einzusetzen, dass Familiensprachen als Nachweis des Unterrichts, der in ihnen stattgefunden hat, im Zeugnis genannt werden.
Bezüglich der praktischen Umsetzbarkeit ist Folgendes zu bedenken: Der Aufbau der nötigen Ressourcen (finanzielle und personelle Ressourcen für die Entwicklung von Unterrichtskonzepten etc.) im Bildungssystem stellt eine große Aufgabe dar und wird in dem Vorschlag möglicherweise ein wenig unterschätzt. Zu überlegen wäre, ob und wie der Vorschlag in Etappen umgesetzt werden könnte; vielleicht zunächst mit Rechtsverbindlichkeit für die Gruppe der neuzugewanderten Jugendlichen. Bei dieser Gruppe mag vermutlich ein hoher Bedarf an Zeit und Aufwand zum Lernen der deutschen Sprache den Wegfall einer zweiten Fremdsprache eher rechtfertigen.
Zusammenfassend
„Mit der Abschaffung der Diskriminierung durch Fremdsprachen-anforderungen bei Schulabschlüssen würde eine Hürde für Schulabschlüsse wegfallen, so dass vor allem zugewanderte Schüler*innen in der Folge seltener ohne Abschluss die Schule verlassen und häufiger auch das Abitur erreichen können.“
Es bleibt weiter zu diskutieren, ob der Vorschlag sich mit dieser Annahme nicht zu viel verspricht und sich zu stark auf die Gruppe der neuzugewanderten Jugendlichen bezieht, die sicher nicht die größte Gruppe der mehrsprachigen Jugendlichen im deutschen Bildungssystem ausmachen. Denkbar wären daher Erweiterungen des Vorschlags, die zusätzliche Möglichkeiten der Stärkung von Herkunftssprachen, Mehrsprachigkeit und der mit Sprache einhergehenden kognitiven Kapazitäten im Fokus haben, beispielsweise die auch von Frau Vogel angesprochenen jahrgangsübergreifenden Angebote, aber auch qualitativ hochwertiger Unterricht (s. Küppers & Schroeder 2017) mit Lehrkräften und Prüfer*innen, die in Deutschland ausgebildet werden.
Eine solche zusätzliche Möglichkeit wäre ein für alle Schüler*innen anzubietender ‚Fokuskurs Sprache‘, vgl. den Vorschlag bei Wiese/Tracy & Sennema (2020, 72):
„einen Fokuskurs ‚Sprache‘, in dem systematisch über Sprache reflektiert und diskutiert und mit Sprache kreativ umgegangen wird und der allen Schüler*innen ihre vielfältigen sprachlichen Kompetenzen und ihr Sprachlernpotential verdeutlicht;“
Der Vorschlag der Autoren, das zeitliche Kontingent für einen solchen Kurs über alle Fächer hinweg anzusparen, erscheint attraktiver als der Verzicht auf eine zweite Fremdsprache.
Literatur
Bialystok, Ellen/Cralk, Fergus & Luk, Gigi (2012): Bilingualism: Consequences for the mind and brain. In: Trends in Cognitive Sciences 16, 240 – 250.
Brizić, Katharina (2006): Alle wollen nur das Eine. Vom Schul- und Sprachlernerfolg türkischer Migrantenkinder. In: DaZ 1/2006, 32 – 41.
Brizić, Katharina (2007): Das geheime Leben der Sprachen. Gesprochene und verschwiegene Sprachen und ihr Einfluss auf den Spracherwerb in der Migration. Waxmann: Münster.
Gogolin, Ingrid (1988): Erziehungsziel Zweisprachigkeit. Konturen eines sprachpädagogischen Konzepts für die multikulturelle Schule. Hamburg: Bergmann + Helbig-Verlag.
Gogolin, Ingrid (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster: Waxmann.
Küppers, Almut & Christoph Schröder (2017): Warum der türkische Herkunftssprachenunterricht ein Auslaufmodell ist und warum es sinnvoll wäre, Türkisch zu einer modernen Fremdsprache auszubauen. Eine sprachenpolitische Streitschrift. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 46 (1), 56 – 71.
Rehbein, Jochen (2011): ‘Arbeitssprache’ Türkisch im mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht der deutschen Schule – ein Plädoyer. In: In: Susanne Prediger / Erkan Özdil (Hrsg.): Mathematiklernen unter Bedingungen der Mehrsprachigkeit – Stand und Perspektiven der Forschung und Entwicklung in Deutschland. Münster: Waxmann, 203 – 209.
Rehbein, Jochen (2012): The future of multilingualism – towards a HELIX of societal multilingualism under global auspices. In: Bührig, Kristin & Bernd Meyer (eds.). Transferring Linguistic Know-How into Practice: perspectivas y resultados – Perspektiven und Ergebnisse – perspectives and results. Amsterdam: John Benjamins, 43 – 83.
Tracy, Rosemarie (2011): Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen. In: Eichinger, Ludwig et al. (Hrsg.). Sprache und Integration. Über Mehrsprachigkeit und Migration. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag, 69 – 100.
Vogel, Dita (2020): Drei Sprachen sind genug fürs Abitur! Ein Reformvorschlag für den Abbau der Diskriminierung von mehrsprachig Aufgewachsenen bei Schulabschlüssen. In: RfM-Debatten. https://rat-fuer-migration.de/2020/07/08/debatte-3-sprachen-sind-genug-fuers-abitur/
Wiese, Heike/Rosemarie Tracy & Anke Sennema (2020): Deutsch-Pflicht auf dem Schulhof? Warum wir Mehrsprachigkeit brauchen. Berlin: Duden Verlag.
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