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Die Debatte über den Migrationshintergrund aus einer postmigrantischen Perspektive weitergedacht

Kommentar von Prof. Dr. Erol Yildiz, Universität Innsbruck

– Einreichung am 10. August 2022

Alles in allem finde ich die Ideen, die Anne-Kathrin Will in ihrem Initialbeitrag entwickelt, für die wissenschaftliche Diskussion von Begriffen im Migrationskontext durchaus interessant. Allerdings bin ich mir nicht ganz sicher, ob der von ihr vorgeschlagene Weg der richtige ist, um gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung und Rassismus entgegenzutreten. Erfahrungsgemäß ist es nicht so einfach, Begriffe, die lange Zeit akademische und politische Debatten geprägt und ein bestimmtes Wissen generiert haben, abzuschaffen bzw. durch einen neuen Begriff zu ersetzen[1]. Dennoch könnte die Diskussion über die Nachfolgegenerationen aus Migrationsfamilien durch die Einführung des Begriffs „Eingewanderte“ ein anderes Profil bekommen. Auch die Idee, Selbstauskünfte der Betreffenden zu erheben, könnte aus meiner Sicht ein relevanter Aspekt sein, um Generalisierungen zu vermeiden und diskriminierende und sortierende Fremdkategorisierungen zu dekonstruieren. Selbstbeschreibungen beruhen eben auf den Erfahrungen der betreffenden Personen selbst und machen ihre Perspektiven sichtbar. Wie Anne-Kathrin Will bin ich der Meinung, dass die Kategorie ‚Migrationshintergrund‘ unspezifisch verwendet wird, wenig mit der Lebenswirklichkeit der Betreffenden zu tun hat und dass durch Selbstauskünfte mehr und andere Einsichten jenseits nationaler Horizonte generiert werden können, statt die bisherigen konventionellen Hierarchisierungen weiter zu tradieren. Ich möchte auch den Aspekt hervorheben, dass der Begriff ‚Migrationshintergrund‘ eine Abweichung von der ‚Standardbevölkerung‘ signalisiert, Polarisierung erzeugt, einen impliziten „Abstammungsbezug“ aufweist und damit Diskriminierungen und Rassismen verschleiert.

Ich werde nachfolgend versuchen, diese Debatte aus einer postmigrantischen Perspektive weiter zu denken. Die Definition des Postmigrantischen als Ende der Migration, die Ludger Pries in seinem Kommentar vornimmt, erscheint mir eine Verkürzung des postmigrantischen Diskurses und zeigt, dass er sich kaum mit postmigrantischen Ideen auseinandergesetzt hat. Auf alternative Denkansätze und Begriffsvorschläge werde ich später eingehen.  

 

Die Wirklichkeit der Wir-Die-Logik

 Zunächst einmal sind Begriffe, die zu statistischen oder anderen Zwecken verwendet werden, nicht neutral, sondern übertragen gewisse Bedeutungen, prägen gesellschaftliche Diskurse und Institutionen und schaffen gesellschaftliche Normalitäten, an denen sich weitere Instanzen orientieren. Ein praktisches Beispiel in diesem Zusammenhang ist, wie Anne-Kathrin Will in ihrem Beitrag zu Recht anmerkt, dass der Begriff ‚Migrationshintergrund‘ in Verwaltungen und Parlamenten ganz selbstverständlich verwendet wird, um sogenannte ‚ethnische Vielfalt‘ oder ‚interkulturelle Öffnungsprozesse‘ zu erfassen und zu dokumentieren. Selbst wenn diese Bezeichnung am Anfang nur für statistische Zwecke gedacht war, schafft die Unterscheidung zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund künstliche Gruppen, die der Lebenswirklichkeit von den betreffenden Individuen kaum entspricht. Man denke nur an die „Integrationsindustrie“, die immer noch mit solchen ontologischen Dualismen arbeitet[2]. Menschen werden durch solche Differenzkategorien auf das Nationale und Ethnische reduziert und damit entindividualisiert und entsubjektiviert. Konkrete Personen, die Gegenstand statistischer Erfassungen oder wissenschaftlicher Analysen sein sollen, erscheinen in diesen Debatten kaum als Menschen, sondern als eine Kategorie. Zudem ist nur zu gut bekannt, dass solche kategorialen Unterscheidungen nicht eingeführt wurden, um Diskriminierung und Rassismus sichtbar zu machen und Maßnahmen dagegen zu entwerfen. Dass es bestimmte Menschen oder Gruppen in der Gesellschaft gibt, die von struktureller Diskriminierung und Rassismus betroffen sind, war schon vor der Einführung des Neologismus ‚Migrationshintergrund‘ bekannt.

Ein weiterer Punkt in diesem Zusammenhang ist, dass einerseits in offiziellen Dokumenten genau definiert wird, wer einen so genannten ‚Migrationshintergrund‘ hat und wer nicht, andererseits aber auch bekannt ist, dass in der Realität nicht alle Menschen mit so genanntem ‚Migrationshintergrund‘ in diese Kategorie gezählt werden, sondern nur Personen, die meist aus einem außereuropäischen Land stammen. So kommen zum Beispiel viele „Eingewanderte“, die in Innsbruck leben, studieren oder arbeiten, aus Deutschland. Niemand käme jedoch auf die Idee, sie mit dem Etikett ‚Migrationshintergrund‘ zu versehen, um über entsprechende Integrationsmaßnahmen für diese Gruppe nachzudenken.

Das hat offensichtlich mit einer weiteren kategorialen Unterscheidung zu tun, die vielen öffentlichen Debatten zugrunde liegt, nämlich der zwischen Mobilität und Migration, ein Gedanke, der auch für die hier geführte Diskussion interessant sein könnte. Diejenigen, die als mobil wahrgenommen werden, gehören zum ‚europäischen Wir‘ und werden fast routinemäßig als ‚integriert‘ oder ‚integrationsfähig‘ wahrgenommen. Der „Mobilitätshintergrund“ oder das Mobilsein wird automatisch positiv konnotiert und als Ressource gesehen. Im Gegensatz dazu werden die Begriffe ‚Migration‘ oder ‚Migrationshintergrund‘ fast reflexartig mit Problemen, Konflikten, Defiziten assoziiert. Man könnte hier von einem ‚europäischen Wirismus‘ sprechen, der bestimmt, wer dazugehört und wer nicht, wer integrationsfähig ist und wer nicht. Der kritische Hinweis von Anne-Kathrin Will auf die Migrantisierung bzw. „Verausländerisierung“ von Menschen, die ein integraler Bestandteil der Gesellschaft sind, zielt darauf ab, denn explizit oder implizit werden die Betreffenden nicht als zum ‚deutschen oder europäischen Wir‘ gehörend definiert. Wie im Initialbeitrag dargelegt, werden Menschen, denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, fast automatisch als Abweichung von der Norm der Sesshaftigkeit betrachtet, auch wenn sie in zweiter, dritter oder vierter Generation hier ansässig sind. Wäre es an dieser Stelle nicht sinnvoller, die Phänomene ‚Sesshaftigkeit‘ und ‚Mobilität‘ in einer zunehmend globalisierten Welt zu überdenken?

Dementsprechend werden Menschen, deren Eltern oder Großeltern nach Deutschland eingewandert sind, die seit Generationen hier leben, mit dem Etikett ‚Migrationshintergrund‘ versehen und nicht als zu den ‚Alteingesessenen‘ zugehörig definiert. Einmal Migrant, immer Migrant, von Generation zu Generation. Schon die Verwendung des Begriffs ‚Alteingesessene‘ ist ein gutes Beispiel für dieses Wahrnehmungsparadox: Wer in Köln lebt und dessen Großeltern aus Bayern nach Nordrhein-Westfalen eingewandert sind, wird als ‚Alteingesessener‘ wahrgenommen. Menschen, die seit Generationen in Köln leben und deren Urgroßeltern aus der Türkei eingewandert sind, werden nicht zu dieser ‚Alteingesessenen-Wir-Gruppe‘ gezählt. Anne-Kathrin Will gebraucht in diesem Zusammenhang den Begriff „Standarddeutsche“.

Radikaler ausgedrückt, könnte man in diesem Zusammenhang sogar behaupten, dass selbst solche kategorischen Klassifizierungen wie ‚Migrationshintergrund‘ oder die Definition ‚alteingesessen‘ nationalistische, eurozentrische, diskriminierende und rassistische Implikationen aufweisen. Damit meine ich, dass Kategorien, auch wenn sie zunächst zu statistischen Zwecken eingeführt werden, nicht neutral sind. Wie in der Einleitung erwähnt, transportieren sie historisch überlieferte Bedeutungen in einem neuen Gewand, prägen gesellschaftliche Debatten und fungieren als „wirkmächtige Erkenntnisinstrumente“ (Bettini 2018: 25). Darüber hinaus formen sie Theorien, methodologisch-methodische Konzeptionen und Forschungspraktiken. Wie Anne-Kathrin Will zu Recht festgestellt hat, verlassen sie damit nicht den Rahmen eines methodologischen Nationalismus oder Eurozentrismus. Bekanntlich verbleiben solche kategorialen Zuordnungen auch nicht im statistischen Kontext, sondern führen ein Eigenleben und werden unreflektiert rezipiert. 

An dieser Stelle möchte ich kurz drei Perspektiven aufgreifen, die meines Erachtens ein postmigrantisches Denken begründen und die meines Erachtens für diese Debatte relevant sind: 1) Die Neuerzählung der Migrationsgeschichte, 2) Die postmigrantische Generation erfindet sich neu und 3) Migrationsforschung als Gesellschaftsanalyse bzw. Migration als Perspektive (vgl. Yildiz 2018):

 

  1. Die Neuerzählung der Migrationsgeschichte

Ein Blick auf die Geschichte der Migration in die BRD nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt, wie sich bestimmte Benennungspraktiken etablierten, die mit Vorstellungen einhergingen, die bis heute nachwirken. Ausländerforschung, Integrationsforschung, Ausländerpädagogik oder interkulturelle Bildung und die in diesem Zusammenhang etablierten Begriffe ‚ethnische Kolonie‘, ‚Parallelgesellschaft‘,  oder eben ‚Migrationshintergrund‘ sind nur allzu bekannt. Hätte man z.B. die sogenannten GastarbeiterInnen von Anfang an als Menschen betrachtet, die unter schwierigen gesellschaftlichen Bedingungen leben, ihre Mobilität organisieren und sich selbst auf ihre Weise verorten mussten, hätten wir heute ganz andere Begriffe, Diskurse und öffentliche Debatten. Es gab auch die Möglichkeit, die Gastarbeiterfamilien im wahrsten Sinne des Wortes als mobil zu bezeichnen und sie als Pioniere der Transnationalisierung zu sehen. Die Geschichte wurde jedoch nicht auf diese Weise erzählt. Erst im Rahmen der postmigrantischen Debatten der letzten Jahre wurde die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass die Geschichte der Migration auch anders erzählt werden kann, indem andere Geschichten und damit marginalisierte, ignorierte und ausgegrenzte Perspektiven sichtbar gemacht werden. Denn die Eingewanderten erster Generation brachen ihre Verbindungen zu ihren Herkunftsorten keineswegs ab. Vielmehr entwickelten sich vielfältige Formen der Mobilität, es etablierten sich neue soziale Bindungen und familiäre Netzwerke, die für die Lebensentwürfe der betreffenden Familien konstitutiv waren und sind – eine Art transkultureller Praxis bzw. Selbsteingliederung. Diese Denkhaltung, die Perspektiven, Geschichten und Erfahrungen von Migration sichtbar macht, ist in den letzten Jahren vor allem in Migrationsausstellungen zu finden.

 

2. Die postmigrantische Generation erfindet sich neu

Auch die zweite, dritte oder vierte Generation, die so genannte postmigrantische Generation, die zum Teil ebenfalls mit bestimmten gesellschaftlichen Erfahrungen konfrontiert sind, erzählen die Migrationsgeschichte ihrer Eltern oder Großeltern auf ihre Weise weiter und entwickeln eigene Lebensentwürfe und Zukunftsvisionen. Sie erzählen ihre eigenen Geschichten, entwerfen ihre eigenen Biographien (siehe exemplarisch Ataman 2019; Topçu/Bota/Pham 2012; El Masrar 2010) und fordern ein Recht auf Selbstbestimmung. Das Weblog „Migrantenstadl 2.0“ ist ein Beispiel dafür, wie gesellschaftliche Verhältnisse aus einem alternativen Blickwinkel und mit einem alternativen Erfahrungshintergrund betrachtet und interpretiert werden können (vgl. Önder/Mustafa 2016)[3].

Auch sie werden im statistischen Kontext und im allgemeinen Sprachgebrauch meist mit Hilfe des Begriffs ‚Migrationshintergrund‘ identifiziert. Es wird wenig darüber nachgedacht, was solche Klassifizierungen bezwecken und warum Menschen, die seit Generationen vor Ort leben, auf diese Weise kategorisiert werden und warum der Fokus nicht auf die Gemeinsamkeiten, auf geteilte Geschichten, gerichtet wird. Ein Beispiel, das dieses Paradoxon zum Ausdruck bringt: Die EntdeckerInnen des Impfstoffs gegen Covid-19, Ugur Sahin und Özlem Türeci, wurden in den medialen Debatten nicht als erfolgreiche ForscherInnen gefeiert, sondern als ForscherInnen mit ‚Migrationshintergrund‘ – aus welchen Gründen auch immer. Das Handelsblatt zitiert mehrere deutsche Zeitungen wie die Bildzeitung oder die Rheinische Post: Die Bildzeitung formuliert: „Unsere Welt kann gerettet werden. Von Mainz aus. Von Migrantenkindern.“ Die Rheinische Post beschreibt ein „Märchen“, also eine Geschichte, die gar nicht wahr sein kann: „Vom Gastarbeiterkind zum Weltretter.“ Hier wird deutlich, dass erstens der Begriff ‚Migrationshintergrund‘ in medialen Debatten, wie eben erwähnt, nur für bestimmte Gruppen gebraucht wird, die implizit als nicht zum ‚europäischen Wir‘ gehörend angesehen werden. Wären die beiden ForscherInnen aus England oder Frankreich eingewandert, dann wäre der ‚Migrationshintergrund‘ nicht in den Vordergrund gerückt worden. Zweitens ist ‚Migrationshintergrund‘ oder ‚Migrantensein‘ keine Eigenschaft von Menschen, keine Berufs- oder Selbstbezeichnung, sondern ein für statistische oder wissenschaftliche Zwecke erfundenes Konstrukt, eine Zuschreibung, die mit der Lebenswirklichkeit der Betreffenden meist wenig zu tun hat. Durch diese Benennungspraxis wird eine fiktive Gruppe geschaffen, der eine besondere Rolle zugewiesen wird, die es in der Realität nicht gibt. Kaum jemand würde im Alltag auf die Idee kommen, sich auf diese Weise vorzustellen. Wie Anna-Kathrin Will plädiere ich dafür, stattdessen die Selbstbeschreibung zum Ausgangspunkt zu machen, oder in diesem speziellen Fall die Qualität der Leistungen hervorzuheben. Wir sprechen hier von SpitzenforscherInnen, die einfach ihre Arbeit gemacht haben. Punkt.

Auch wenn die Wortneuschöpfung ‚Migrationshintergrund‘ derzeit noch als politisch korrekt gilt – diejenigen, die mit einem solchen Etikett versehen werden, reagieren oft verärgert darauf: Sie wollen nicht auf ihren oft vermeintlichen Migrationshintergrund reduziert werden. Solche Bezeichnungen und Haltungen tragen maßgeblich dazu bei, eine fiktive Gruppe von Menschen zu konstruieren, die außer der Tatsache, dass sie aus zugewanderten Familien stammen und hier geboren sind, wenig gemeinsam haben.

 

3. Migrationsforschung als Gesellschaftsanalyse bzw. Migration als Perspektive

Migrationsforschung nicht als Sonderforschung zu betreiben, sondern als Gesellschaftsanalyse zu etablieren, bedeutet, dass solche Begrifflichkeiten wie ‚Migrationshintergrund‘ oder der von Friedrich Heckmann aus dem US-amerikanischen Kontext importierte Begriff „ethnische Kolonie“ eher kontraproduktiv wirken und eine eigene Logik erzeugen (vgl. Heckmann 1992; 2015). Die dadurch etablierte Sonderforschung und das daraus hervorgehende Sonderwissen habe ich an anderer Stelle als „methodologischen Migrantismus“ bezeichnet (Yildiz 2021)[4]. Migrationsforschung als Gesellschaftsforschung bedeutet dagegen, sich zunächst von solchen Vorstellungen zu verabschieden. Regina Römhild spricht zu Recht von einer postmigrantischen Migrationsforschung und plädiert für eine Forschungsrichtung, in der Migration als Perspektive und nicht als Ausgangspunkt zu verstehen ist (Römhild 2015). Die postmigrantische Perspektive fungiert somit als Beobachtungskategorie für soziale Situationen der Mobilität und gesellschaftliche Vielheit und macht Brüche, Mehrdeutigkeit und marginalisierte Erinnerungen sichtbar, die keine Sonderthemen darstellen, sondern die zentralen gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegeln.

Die Gesellschaft besteht aus Menschen, die da sind, unabhängig davon, wo sie herkommen und welche kulturellen oder religiösen Hintergründe sie aufweisen. Das ist der Ausgangspunkt – und nicht die wertende und ethnisierende Unterscheidung zwischen Menschen mit und ohne ‚Migrationshintergrund‘. Letztlich geht es um Gleichberechtigung und Anerkennung und Überwindung von Diskriminierung und Rassismus.

 

Neue Denkalternativen

Vieles spricht für eine non-dualistische Sichtweise (Mitterer 2011), mit der historische Entwicklungen neu kontextualisiert werden, eine andere Genealogie der Gegenwart entworfen wird. Konzepte von Migration und Sesshaftigkeit, ‚einheimisch‘ und ‚nicht-einheimisch‘ müssen zusammengedacht werden. Es bedarf einer selbstkritischen Forschung, einer Abkehr von sich selbst produzierenden statistischen Erfassungen und wissenschaftlichen Analysen zu ‚Migrationshintergründlern‘. Vielleicht brauchen wir neue Ideen und Begriffe, die solche sortierenden Sichtweisen sowohl in der statistischen Erfassung als auch in der Forschungslandschaft überwinden, wie etwa die Perspektive des „Mehrheimischseins“ oder „Weltheimischseins“ (vgl. Yildiz/Meixner 2021). Solche Begriffe könnten als Metapher genutzt werden, um von der Wir-Sie-Logik des ‚Wirismus‘ wegzukommen. Sie könnten im wissenschaftlichen Kontext und in der konkreten Forschungspraxis produktiv sein, die gewohnte Denkweise einheimisch/nicht-einheimisch, migrantisch/nicht-migrantisch in Frage zu stellen und neue Ideen und Forschungsperspektiven zu eröffnen. Der theoretische und forschungspraktische Hintergrund hierfür wäre die Annahme bzw. Einsicht, dass wir alle in gewisser Weise „mehrheimisch“ und „weltheimisch“ sind, wenn auch in unterschiedlicher Weise und Intensität. Dies würde uns motivieren, andere Fragen zu stellen und alternative Denkweisen zu entwickeln, um naturalisierende Begriffe wie ‚Migrationshintergrund‘ und damit Othering-Prozesse sowohl in der Theoriebildung als auch in der Forschungspraxis zu vermeiden. Der vorliegende Initialbeitrag von Anna-Kathrin Will könnte ein Schritt in diese Richtung sein.

Wie die vorangegangenen Ausführungen zeigen, gewinnen solche Gruppenkonstruktionen, etwa von Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund, erst im Kontext wissenschaftlicher, methodisch-methodologischer und alltäglicher Kategorisierungen eine gewisse Plausibilität. Sie verfestigen sich in fortlaufender Reproduktion und erzeugen damit eine gewisse Normalität.  „Sie sind nicht Dinge in der Welt, sondern Sichtweisen auf die Welt – keine ontologischen, sondern epistemologischen Realitäten“, so die prägnante Formulierung Rogers Brubakers (1997: 117; Hervorhebung im Original).

Ergänzend argumentiert Walter D. Mignolo (2019: 104): „Unterschiedliche Perspektiven sind nicht nur eine Frage des Blicks, sondern auch des Bewusstseins, der physischen Verortung sowie Machtdifferenz.“ Darüber hinaus stehen solche Begriffe immer im Zusammenhang mit bestimmten Denktraditionen, die auch bestimmte Handlungsoptionen zur Verfügung stellen und eine enorme symbolische Kraft aufweisen. In seinem Buch „Was heißt sprechen?“ hat schon Pierre Bourdieu (1990: 71) auf die kontrollierende, selektierende, organisierende und kanalisierende Macht der Diskurse und Begriffe hingewiesen.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Bezeichnung ‚Migrationshintergrund, obwohl zunächst für statistische Erfassungen verwendet und im Allgemeinen eher positiv konnotiert, die etablierten nationalisierenden und ethnisierenden Deutungen verfestigt hat. Der Begriff verschleiert eher rassistische und diskriminierende Strukturen und stabilisiert so „eine Vorstellung von Standarddeutschen als weiß-europäisch, hochdeutsch sprechend“, so Anne-Kathrin Will (S. 10).

 

 

Fußnoten

[1] Es kommt immer auch darauf an, von wem und in welchem Zusammenhang gewisse Benennungen vorgenommen werden. Migrantsein oder einen Migrationshintergrund zu haben – im Gegensatz zum Mobilsein oder einen  Mobilitätshintergrund aufzuweisen – werden oft negativ konnotiert. Migrantsein oder Ausländersein kann aber auch von den betreffenden Individuen – im Sinne Stuart Halls – transkodiert, aufgewertet und als Widerstandstrategie  genutzt werden. Nicht selten – wenn auch nicht immer intendiert – werden Begriffe wie Interkulturalität, Transkulturalität oder Diversität auf Migrationshintergrund reduziert, obwohl diese Phänomene die gesamte Gesellschaft charakterisieren, also eine gesellschaftliche Normalität darstellen.

[2]Der Kommunikationstheoretiker Siegfried J. Schmidt, der zur Theorietradition des Radikalen Konstruktivismus gezählt wird,  unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen instrumentellen und ontologischen Dualismen. „Auf einen Nenner gebracht könnte man sagen: Um unsere Lebensprozesse pragmatisch erfolgreich zu bewältigen, brauchen wir instrumentelle Dualismen. Problematisch wird es, wenn wir diese instrumentellen Dualismen als ontologische Dualismen deuten, die ich als Dichotomien bezeichne, und wenn wir für diese Dichotomien Wahrheit beanspruchen; denn dann begeben wir uns über erkenntnistheoretische und erkenntnispraktische Überlegungen hinaus in das harte Spiel sozialer und politischer Machtausübung.“ (2013, S. 46).

[3] Selbstverständnis der Autorinnen und Autoren lautet: „migrantenstadl ist ein blog von und für grenzüberschreitende dadaisten und textterroristen, mit provokativen, subjektiven und politischen ansichten und geschichten aus dem migrantenmilieu und darüber hinaus, in münchen und anderswo. migrantenstadl ist die stimme mitten aus der peripherie.“

[4] Gemeint sind damit das Denken und Forschen in ethnisierenden Kategorien, ein normalistisches Diktat von Ordnung und Abweichung mit einer Fixierung auf Mangel und Defizite. Es handelt sich um ein Denksystem, das Lebenswirklichkeiten anhand historisch konstruierter Deutungen von Normalität beurteilt bzw. abwertet. Eine solche „migrantistische“ Denkart hat über lange Zeiträume eine Vorstellung von Normalität hervorgebracht, die Teilen der Migrations-, Integrations- und Segregationsforschung noch heute zugrunde liegt.

 

 

Literatur 

Ataman, Ferda (2019): Hört auf zu fragen. Ich bin von hier. Frankfurt a. M.

Bettini, Maurizio (2018): Wurzeln. Die trügerischen Mythen der Identität. München: Kunstmann.

Bourdieu, Pierre (1990): Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien: New Academic Press.

Brubaker, Rogers (2007): Ethnizität ohne Gruppen. Hamburg: Hamburger Edition.

El Masrar, Sineb (2010): Muslim Girls. Wer wir sind, wie wir leben. Frankfurt am Main.

Heckmann, Friedrich (2015): Integration von Migranten. Einwanderung und neue Nationenbildung. Wiesbaden: Springer.

Heckmann, Friedrich (1992): Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Stuttgart: Enke.

Mignolo, Walter D. (2019): Epistemologischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität. Wien: Turia + Kant.

Mitterer, Josef (2011): Das Jenseits der Philosophie. Wider das dualistische Erkenntnisprinzip. Weilerwist.

Önder, Tunay/Mustafa, Imad (2016): Migrantenstadl. Münster: Unrast-Verlag.

Römhild, Regina (2015): Jenseits ethnischer Grenzen. Für eine postmigrantische Kultur- und Gesellschaftsforschung. In: Erol Yildiz/Marc Hill (Hg.): Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft. Bielefeld, S. 37-48.

Schmidt, Siegfried J. (2013): Dichotomisierung – ein fatales Instrument der Komplexitätsreduktion, in: Elka Tschernokoshewa/Fabian Jacobs (Hg.): Über Dualismen hinaus. Regionen – Menschen – Institutionen in hybridologischer Perspektive. Münster u.a, 45-83.

Topçu, Özlem/Bota, Alice/Khuê, Pham (2012): Wir neuen Deutschen. Wer wir sind, was wir wollen, Reinbek bei Hamburg.

Yildiz, Erol (2021): Das Postmigrantische und das Politische. Eine neue Kartographie des Möglichen. In: Lisa Gensluckner/Michaela Ralser/Oscar Thomas-Olalde/Erol Yildiz (Hg.): Die Wirklichkeit lesen. Political Literacy und politische Bildung in der Migrationsgesellschaft (postmigrantische Studien Band 7). Bielefeld, S. 21-42

Yildiz, Erol (2018): Vom methodologischen Nationalismus zu postmigrantischen Visionen. In: Marc Hill/Erol

Yildiz (Hg.): Postmigrantische Visionen. Erfahrungen – Ideen – Reflexionen (Postmigrantische Studien Band 1). Bielefeld, S.43-63.

Yildiz, Erol/Meixner, Wolfgang (2021): Nach der Heimat. Neue Ideen für eine mehrheimische Gesellschaft. Stuttgart.

 

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