Kommentar von Vassilis Tsianos, Uni Kiel, Vorsitzender Rat für Migration, zu Flüchtlingsaufnahme aus der Ukraine
Link zum Originalartikel auf Seite des Gemeinnütziges Bildungswerk des Deutschen Gewerkschaftsbundes
Wenn es möglich ist, überhaupt einen Vergleich zwischen „2015“ und heute zu machen, dann besteht der Unterschied darin, das damals in Deutschland zwei Drittel aller Asylanträge in Europa gestellt wurden und Deutschland deshalb Treiber einer Europäisierung der Flüchtlingsabwehr wurde. Heute sind die Hauptempfänger der ukrainischen Kriegsmigrant_innen migrationsskeptischen Länder wie Polen und Ungarn.
Mit der Aktivierung der „Massenzustrom-Richtlinie“ Anfang März hat sich die EU schnell und ohne die üblichen Polarisierungen auf eine realistische und unkomplizierte Aufnahme von Schutzsuchenden verständigt. Im Gegensatz zu 2015 handelt es sich tatsächlich um eine europäische Lösung, weil alle Mitgliedstaaten durch die einstimmige Entscheidung des Rates gebunden sind. Wie die Dublin-Verordnung aktiviert auch die Massenzustrom-Richtlinie ein gesamteuropäisches Solidaritätsterritorium. Die schnelle Aufnahme und Weiterverteilung der ukrainischen Kriegsmigrant_innen war in dieser Form nur möglich, weil die überwiegende Mehrzahl visumsfrei in die EU einreisen konnte. Auch wenn die Massenzustrom-Richtlinie 2015 skandalöserweise nicht aktiviert wurde, so zeigt sich dennoch auch in der Gewährung des Schutzstatus eine Parallele: Aus Syrien geflüchtete Personen konnten 2015 in Deutschland schnell und unbürokratisch einen Schutzstatus beantragen. Das, was in Deutschland damals als Kontrollverlust und die „Mutter aller Probleme“ skandalisiert wurde, ist heute gesamteuropäische Schutzrealität.
Was kommt in den nächsten Monaten? In Deutschland wird auf Weisung des Bundesinnenministeriums (BMI) ein 24-monatiger Schutzstatus in Form einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG erteilt. Damit geht das BMI über die Anforderungen der EU hinaus. Dies zeigt offensichtlich eine Lernfähigkeit des BMI, dass es heute vor allem darum geht, den Ankommenden eine stabile Bleibeperspektive zu gewährleisten.
Es verweist aber ebenso auf die Möglichkeit, dass ehemalige Schutzsuchende sich dauerhaft in Deutschland bzw. in Europa niederlassen werden wollen. Dennoch ist möglich, dass beim Auslaufen des 24-monatigen Schutzstatus eine Massenabschiebung droht, wie wir sie Ende der 1990er-Jahre mit den Bosnien-Flüchtlingen erlebt haben. Doch die europäische Migrationsgesellschaft weiß, dass eine gelebte Auto-Integration in die Gesellschaft das beste Mittel gegen Abschiebungen ist. Darauf wird es nun ankommen. Nicht nur in dieser Hinsicht wäre es nun wichtig, das Asylbewerberleistungsgesetz abzuschaffen.
Doch die breite Solidarität für kriegsvertriebene Ukrainer_innen, der unbürokratische Zugang zu Gesundheit, Ausbildung und Arbeit sowie die Möglichkeit zur eigenen Bestimmung des Niederlassungsortes soll nicht an 2015 erinnern. Der Vizepräsident der EU-Kommission, Margaritis Schinas, bestand darauf, dass man die gegenwärtige Situation unter keinen Umständen mit 2015 vergleichen dürfe, als Menschen aus Syrien und Afghanistan flohen: „Ukraine is not an alien country to Europe. It is part of the family.“
Der griechische Minister für Migration und Asyl, Dimitris Mitarakis, hat sogar versucht, die willkürliche Unterscheidung zwischen echten Flüchtlingen aus der Ukraine und angeblich nicht echten Flüchtlingen aus anderen Ländern mit Beweisen zu belegen: „Die Ukraine befindet sich im Krieg, sie grenzt an die Europäische Union, und die Ukrainer, die ihr Land verlassen, kommen auf koordinierte Weise, mit Papieren, mit Pässen, an den legalen Einreisepunkten des Landes. Das heißt, sie stellen sich, wie in der Genfer Konvention vorgesehen, direkt an der Grenze den griechischen Behörden und reisen dann in unser Land ein. Sie sind echte Flüchtlinge“, so Mitarakis.
Doch allein die Tatsache, dass die Flüchtlinge aus der Ukraine aus einem vom Krieg zerrütteten Land kommen, reicht aus, um sie von vornherein als Flüchtlinge mit hohem Status zu betrachten und ihnen alle Einrichtungen für ihre Aufnahme zur Verfügung zu stellen, so wie die Flüchtlinge aus Syrien 2015 als Flüchtlinge mit hohem Status betrachtet wurden.
Die Dinge, die Mitarakis anspricht – Grenzen mit der EU, legale Papiere, koordinierte Einreise an legalen Einreisestellen – haben nichts mit der Anerkennung des Flüchtlingsstatus zu tun, und auch nicht mit der Genfer Konvention, auf die sich der Minister irreführend beruft. Der einzige Grund, warum ukrainische Flüchtlinge koordiniert und legal nach Griechenland kommen, ist, dass Griechenland und die EU beschlossen haben, legale Einreisewege für Ukrainer zu schaffen und die Grenzposten zu öffnen, die sie für Flüchtlinge aus dem globalen Süden selektiv geschlossen halten. Im Übrigen gab sein Ministerium bekannt, dass es eine Reihe von Einrichtungen nur für Flüchtlinge aus der Ukraine umwandeln wird. Er kündigte auch an, dass ein Programm für die Unterbringung von schutzbedürftigen Flüchtlingen in Wohnungen in Griechenland noch in diesem Jahr beendet werden soll. Für die nicht-ukrainischen Geflüchteten in Griechenland bedeutet das ein Leben auf der Straße.