Zwischen falschen Reformen und staatlichen Verbrechen des Friedens
von Prof. Dr. Vassilis S. Tsianos
Zuerst publiziert in: 40. Newsletter „Rassismuskritische Migrationspädagogik“, Juli 2023.
Die Diskussion um ein neues gemeinsames europäisches Asylsystem stagniert. Im Dreieck zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission verfestigt sich weiterhin eine institutionelle Blockade. Aktuell wird sie zudem flankiert von der Ratspräsidentschaft Spaniens und somit von einer Regierung, welche angesichts einer zu befürchtenden rechtspopulistischen Verschiebung des politischen Klimas aktuell keine weiteren Reforminitiativen in Sachen progressive Migrations- und Asylpolitik favorisiert. Als weitere, für diese Blockade verantwortliche Akteure müssen die 4 migrationsskeptizistischen Visegrád-Staaten und die wackelige Allianz der M5, der 5 Mittelmeerländer (Griechenland, Italien, Malta, Zypern, Spanien) genannt werden. Sie alle werden sicherlich die mit Mühe ausgehandelten Beschlüsse oder des Europäischen Rates oder in einem Jahr des Europäischen Parlaments faktisch so lange nicht anerkennen, bis sich der Dublin-Status quo zu ihren Gunsten verschiebt.
Die institutionelle Blockade stellt somit ein Problem dar, das sich nur durch die Festlegung verbindlicher Quoten lösen lassen wird. Denn das Dublin-System ist keines, welches Geflüchtete in die EU-Mitgliedstaaten an der EU-Außengrenze abdrängen sollte, sondern eines, das den Erstkontakt und den Asylantrag zum entscheidenden „Kriterium“ erhoben hat. Es ist nicht überraschend, dass gerade die zentraleuropäischen EU-Staaten und hierbei vor allem Deutschland, welches seit Anbeginn nachweislich von Dublin profitiert hat, so stark an einer Screening-Verpflichtung interessiert sind. Auch die Tatsache, dass der Schengen-Raum immer wieder auf die Probe gestellt wird, geht maßgeblich von Deutschland aus. An dieser Stelle soll deutlich gesagt werden, dass die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen nicht nur rechtswidrig ist, sondern einen beabsichtigten Druck auf die EU-Mitgliedstaaten an der EU-Außengrenze ausübt, der weder funktioniert noch die Europäisierung der Asylpolitik stärkt.
Im Ergebnis erzeugt der nun erreichte Reformkompromiss des Europäischen Rates Operationen einer buchstäblich beunruhigenden europäischen Grenze, die weder humanisiert werden kann, noch uneingeschränkt brutalisiert werden darf. Anders gesagt: Es sind Operationen, die irgendwo zwischen „states of denial“ und „crimes of peace“ liegen. In der Sprache der Kriminologie werden die Praktiken der rhetorischen Verleugnung staatlicher Verbrechen als „states of denial“, als Leugnungszustände bezeichnet. Je vulgärer und unmenschlicher eine Praxis ist, desto vulgärer ist ihre Ableugnung, weil sie gezwungen ist, zu leugnen, was jeder weiß. Die Praxis der Leugnung von Pushbacks richtet sich zum einen an jene, die der Tod und die Gewalt an der Grenze längst immunisiert hat. Andererseits an solche, deren naiver Glaube, die
Grenzkontrollbehörden würden niemals imstande sein, so viel humanitären Schaden anzurichten, beinahe unerschütterlich scheint. Gerade bei der zum heimlichen Abschreckungssystem gewordenen Praxis der Pushbacks handelt es sich um staatliche „crimes of peace“ (Maurizio Albahari), also um staatliche Verbrechen, die an unbewaffneten Zivilist:innen begangen werden, um einen geteilten Frieden in Europa herzustellen.
Bei Pushbacks handelt es sich um staatliche Maßnahmen, bei denen flüchtende und migrierende Menschen – meist unmittelbar nach dem Grenzübertritt – zurückgeschoben werden, ohne die Möglichkeit einen Asylantrag zu stellen oder dessen Rechtmäßigkeit gerichtlich überprüfen zu lassen. Pushbacks verstoßen u.a. gegen das Verbot der Kollektivausweisung, das in der Europäischen Menschenrechtskonvention[1] festgeschrieben ist.[2] Zudem sind sie auch als illegale Handlungen zu werten im Sinne der EU-Grundrechte-Charta[3], die wiederum der Genfer Flüchtlingskonvention folgt (Artikel 18). Sie verstoßen auch gegen die Rechtsvorschriften des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS).
So sind beispielweise acht Jahre vergangen seit dem Schiffsunglück in Farmakonisi im Januar 2014, bei dem elf Menschen ertranken, die meisten von ihnen Kinder. Die Überlebenden haben sich an Straßburg gewandt; der Fall war acht Jahre bis zum Urteil vom 7. Juli 2022 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hängig. In einer im letzten Jahr verkündeten Entscheidung hat der europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg Griechenland wegen einer Verletzung des Rechts auf Leben und wegen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung verurteilt und dazu verpflichtet 330.000€ Entschädigung an die Hinterbliebenen zu zahlen. Darüber berichtet Pro Asyl. Bei einer Pushback-Operation der griechischen Küstenwache starben im Januar 2014 drei Frauen und acht Kinder aus Afghanistan. Obwohl das Flüchtlingsboot mindestens 15 Minuten im Schlepptau der griechischen Küstenwache gewesen sein soll, wurden die Flüchtlinge weder an Bord des Schiffs der Küstenwache geholt noch wurden Rettungswesten ausgeteilt. Die Flüchtlinge schildern eine Push-Back-Operation, die griechischen Behörden hatten behaupten, eine Seenotrettungsmaßnahme durchgeführt zu haben. Nachdem das Boot von der Küstenwache geschleppt worden war, wurde die Verbindung getrennt. In einer Pro Asyl Analyse zu den Vorgängen heißt es zum weiteren Verlauf: „Das Boot wurde mit den Frauen und Kinder unter Deck in die Tiefe gerissen. Eine Mutter und ihr Sohn wurden am darauffolgenden Tag von der türkischen Küstenwache tot geborgen, der Leichnam eines Babys wurde Tage später vor der Insel Samos gefunden. Die übrigen acht toten Körper wurden Wochen später aus dem Rumpf des Schiffes geborgen. 16 Menschen konnten sich auf das Küstenwachschiff retten“.
Der damalige Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Muižnieks, hatte erklärt, es handele sich um einen „Fall von gescheiterter Massenabschiebung“. Monate nach dem Vorfall, als die griechischen Justizbehörden das Verfahren einstellten, sagte er: „Was ich heute sehe, ist, dass die Straffreiheit die Gefahr birgt, schwere Menschenrechtsverletzungen zu vertuschen.“[4]
Der Fall Farmakonisi ist insofern von Bedeutung, weil er überraschende Ähnlichkeiten hat mit dem tragischen Fall von Pylos. Und zwar in doppelter Hinsicht, sowohl was das Handeln der griechischen Küstenwache betrifft, aber auch was die mögliche juristische Auseinandersetzung mit den Folgen dieser Tragödie. Videos und eine interaktive Karte von Forensis[5] (Schwesterorganisation der bekannten Forschungsgruppe Forensic Architecture) rekonstruieren den Kurs des verunglückten Fischerboots der Flüchtlinge und die Bewegungen der Küstenwache. Die Untersuchung bestätigt die aktive Rolle der Küstenwache beim Untergang des Fischerbootes, nachdem sie zweimal versucht hatte, es anzulegen und abzuschleppen, und zeigt tragische Widersprüche zwischen den Aussagen des Kapitäns der Küstenwache und den Angaben des Hauptquartiers der Seenotzentrale auf. Die Untersuchung rekonstruiert die Bewegungen des Fischerbootes und des Bootes der Küstenwache anhand von Fotos und Videos des Fischerbootes von der Küstenwache, von Frontex, von Schiffen an der Seite sowie von Satellitenbildern und Notsignalen, die Aussage des Kapitäns der Küstenwache und Beweise aus dem Decklogbuch, und verglich diese mit den Aussagen von 26 Überlebenden, der bisher größten Zahl, die den Ermittlern der beiden Teams und Journalisten des Guardian, STRG_F (ARD/Funk) und Solomon zur Verfügung gestellt wurden.[6]
Den Ermittlungen zufolge näherte sich das Boot der Küstenwache dem Fischerboot gegen Mitternacht, nachdem die Schiffe ausgelaufen waren, und bat darum, ihm auf einem Kurs in italienische Gewässer zu folgen. Als der Motor des Fischerboots abgestellt wurde, näherte sich das Boot der Küstenwache mit seinem Heck dem Bug des Fischerboots, ein maskierter Mann kletterte an Bord des Fischerboots und band ein Seil an der mittleren Reling an Steuerbord fest. Beim ersten Mal wurde das Seil durchgeschnitten. Beim zweiten Mal bewegte sich die Küstenwache mit höherer Geschwindigkeit, so dass das Fischerboot erst nach Steuerbord, dann nach Backbord und dann wieder nach Steuerbord kippte und sich nach Steuerbord überschlug. Die Überlebenden auf dem Innendeck sahen das Abschleppen nicht, spürten aber, wie sie kurz nach dem Abstellen des Motors wie eine Rakete scharf nach vorne geschleudert wurden. Nachdem das Fischerboot gekentert war, entfernte sich der Boot der Küstenwache und verursachte Wellen, die zum Sinken des Schiffes beitrugen und das Schwimmen erschwerten. Das Rettungsboot blieb etwa eine halbe Stunde auf Distanz und leuchtete das Wrack mit seinen Scheinwerfern aus, dann kehrten die Besatzungsmitglieder mit einem Rettungsboot zum Wrack zurück, um nach Überlebenden zu suchen.
Aus der Analyse der von der Küstenwache veröffentlichten Koordinaten und Zeiten geht hervor, dass das Fischerboot etwa eine Stunde vor dem von der Küstenwache angegebenen Zeitpunkt, an dem der Motor des Fischerboots aussetzte, von 00:44 Uhr bis 1:40 Uhr, nahezu stationär war und mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von etwa einer halben Seemeile pro Stunde nach Süden fuhr. Dies steht im Widerspruch zu den Angaben im Logbuch der schwimmenden 920 und der eidesstattlichen Erklärung des Kapitäns, wonach sich das Fischereifahrzeug von 23:57 bis 1:40 Uhr mit einer Geschwindigkeit von etwa 3 Knoten in Richtung Westen bewegte. Schließlich hält die Untersuchung fest, dass es starke Anzeichen dafür gibt, dass die Küstenwache maßgeblich für das Kentern verantwortlich ist, und dass es sehr wahrscheinlich ist, dass die Küstenwache versucht hat, die Fakten falsch darzustellen.
Alle Zeugen berichten, dass ihre Mobiltelefone beschlagnahmt wurden, entweder an Bord des Bootes der Küstenwache nach ihrer Rettung oder später in Kalamata, und dass die Behörden sich trotz wiederholter Aufforderung weigerten, sie zurückzugeben. Einige berichteten, dass die Mobiltelefone, die sich in wasserdichten Taschen befanden, Videoaufnahmen von dem Moment kurz vor dem Untergang des Bootes enthielten. „Ich sagte ihnen, dass die griechische Küstenwache kam und das Seil an unser Boot band und uns abschleppte und das Boot zum Kentern brachte. Das haben sie nicht in meine Aussage geschrieben, und als sie sie am Ende vorlegten, konnte ich diesen Punkt nicht finden“, stellt ein Überlebender (Reporters United) fest und sagt, er sei unter Druck gesetzt worden, auf Personen zu verweisen, die wegen Menschenhandels angeklagt und inhaftiert waren. Ein anderer Überlebender berichtet, dass auf ihn Druck ausgeübt und
seine Aussagen manipuliert wurden: „Ich habe ihnen gesagt, dass die griechische Küstenwache dafür verantwortlich ist. Es gab einen Dolmetscher, der mir sagte, ich solle das nicht vor der Polizei sagen. Ich habe meine Aussage nicht geändert. Die griechische Polizei sagte: „Vielleicht sagen Sie das, weil Sie unter psychologischem Druck stehen und deshalb nicht wissen, was Sie sagen sollen. Sie sind verletzt.“ Ich hatte also Angst und habe nichts weitergesagt. Und sie haben das nicht in die Abschlusserklärung aufgenommen.“
Wie bekannt wurde, gaben neun Überlebende drei Tage nach ihrer ersten Aussage bei den Hafenbehörden eine Erklärung bei den Justizbehörden in Kalamata ab, in der sie detailliert beschrieben, dass die Küstenwache das Fischerboot abgeschleppt und zum Sinken gebracht hat. Die journalistische Untersuchung der sieben Medien enthüllt auch die Klagen der Überlebenden darüber, dass die Küstenwache ihre Mobiltelefone, die Videos und Fotos des Schleppens und des Kenterns enthielten, konfisziert und verschwinden lassen hat, dann aber leugnete, sie konfisziert zu haben, oder sich weigerte, sie zurückzugeben, selbst als Anwälte eingeschaltet wurden.
Wie bedenklich der Fall Pylos ist, erklärt vielleicht der außerordentliche Duktus des Vorsitzenden des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten des Europäischen Parlaments (LIBE). LIBE ist mit den Zusicherungen Griechenlands, es sei in der Lage, eine glaubwürdige Untersuchung der Umstände des Schiffbruchs in Pylos durchzuführen, nicht zufrieden und fordert eine internationale, unabhängige und transparente Untersuchung, die vom Europarat oder der UNO koordiniert wird. In einem Schreiben an die EU-Kommissarin Ilva Johansson und den griechischen Minister für Meeresangelegenheiten, Miltiades Varvitsiotis, vom 28. Juni erklärte Juan Fernando Lopez Aguilar, dass trotz der frühzeitigen Warnung von Frontex vor der Gefahr, in der sich das Schiff befand, „die griechische Küstenwache keine Maßnahmen ergriffen hat, was tragische Folgen und enorme Kosten in Form von Menschenleben nach sich zog“. Er fordert die griechischen Behörden und die Europäische Kommission auf, „unverzüglich eine unabhängige und transparente internationale Untersuchung des Vorfalls einzuleiten, um die Handlungen der griechischen Behörden und von Frontex sowie deren Übereinstimmung mit dem europäischen und internationalen Recht, insbesondere mit den Rechtsvorschriften über Suche und Rettung auf See, zu prüfen“. Und er schlägt vor, dass der Menschenrechtskommissar des Europarates, der Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für Migration und Flüchtlinge oder der UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte von Migranten die Untersuchung durchführen sollten.
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Kontakte für Presseanfragen
Prof. Dr. Vassilis Tsianos
Fachhochschule Kiel |
Der Rat für Migration ist ein bundesweiter Zusammenschluss von 220 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen. Er begleitet kritisch öffentliche Debatten zu Migration, Integration und Asyl.
[1] https://www.echr.coe.int/documents/convention_deu.pdf
[2] zitiert nach ECCHR
[3] https://www.europarl.europa.eu/charter/pdf/text_de.pdf
[4] Apostolis Fotiadis, A. (2015), The Merchants of Borders: The new European Surveillance Architecture. Athens: Potamos
[5] The Pylos Shipwreck – Situated Testimony (long version) Forensis: https://vimeo.com/843117800
[6] Under the unwatchful eye of the authorities’ deactivated cameras: dying in the darkest depths of the Mediterranean. A collaborative investigation by Solomon, Forensis, The Guardian and ARD: https://wearesolomon.com/mag/format/investigation/under-the-unwatchful-eye-of-the-authorities-deactivated-cameras-dying-in-the-darkest-depths-of-the-mediterranean/