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Die postmigrantische Gesellschaft ist verwundet!

Eröffnungsrede von zur Jahrestagung „50 Jahre Anwerbestopp. Vom Eigensinn der Migration“ des Vorsitzenden des Rats für Migration von Prof. Dr. Vassilis Tsianos

– Gehalten am 24. November 2023

I.

Der Fokus dieser Jahrestagung „50 Jahre Anwerbestopp. Vom Eigensinn der Migration“ hatte ursprünglich mit unserem Versuch zu tun, die Geschichte eines Steuerungsirrtums zu ergründen. Vor einem Jahr, als wir mit der Planung anfingen, wussten wir allerdings noch nicht, dass wir uns hierbei mit der Genealogie unserer Gegenwart auseinandersetzen. Denn der Anwerbestopp steht nicht nur für einen fehlgeschlagenen migrationspolitischen Steuerungsansatz, einer unter vielen wie Rotation, Globalplafonierung, rückehrorientierte Integration, Zuzugssperre, Herabsetzung des Zuzugsalters, Streichung der Kindergelder, Wohnortzuweisung, Rückehrprämie. Der Anwerbestopp und mit ihm das beabsichtigte „Ende der Gastarbeit“ steht auch für den Kulminationspunkt einer migrationsrestriktiven Wende, die mit der Europäisierung der Migrationspolitik einherging und auch die Effekte der Dekolonisierung regulieren sollte.

Die Anwesenheit einer großen Anzahl Zuwanderer:innen aus den Kolonien galt nämlich auf europäischer Ebene als zentraler Stolperstein bei der Integration Großbritanniens in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Bei den Verhandlungen um seinen Beitritt willigte Großbritannien 1971 ein, dem Beitrittsvertrag eine Erklärung beizulegen, die den Begriff „britische Staatsangehörige“ genauer definierte. Das Problem bestand darin, dass der British Nationality Act von 1948 die Bevölkerung einiger Kolonien mit denen Großbritanniens gleichgestellt hat. Folglich hätten diese Einwohner:innen beim Beitritt zur EWG von der vollen Arbeitnehmer:innen-Freizügigkeit profitiert. Nach langen Verhandlungen wurde schließlich die Kompromisslinie gefunden, dass nur diejenigen von der Freizügigkeit profitieren sollten, die in Großbritannien ein „unwiderrufliches Niederlassungsrecht“ hatten, d.h. britische natives. Vorbilder für den Ausschluss kolonialer Subjekte aus der Freizügigkeitsregelung der EWG gab es bereits in der Aushandlung der Römischen Verträge von 1958. Die algerischen Bewohner:innen des damals noch französischen Algeriens und der überseeischen Departements Frankreichs wurden von den Bestimmungen über die Freizügigkeit ganz einfach ausgeschlossen. Die Tatsache, so die Delegierten der deutschen Delegation im März 1957, dass diese Bestimmung also auch diejenigen Bewohner:innen dieser Gebiete betraf, die die französische Staatsangehörigkeit besaßen, sei dabei ganz gleichgültig. Deutsche Ministerialbeamte wussten somit sehr genau, dass es bei diesem Ausschluss im Kern um die Durchsetzung einer Exklusion ging, die de jure keinesfalls „Merkmale der Rasse“ als Begründungskriterium heranziehen durfte. 1961 wurde die Freizügigkeit für französische Staatsbürger:innen algerischer Herkunft abermals aus den Verhandlungen ausgeklammert. Sie kam jedoch erneut auf die Tagesordnung, und zwar wegen der umfangreichen Anwerbung algerischer Arbeiter:innen durch die französische Wirtschaft um 1970. Wie schon bei den Diskussionen über den Ausschluss der Algerier:innen aus der Freizügigkeit 1957, waren bei den Debatten im Vorfeld des EWG-Beitritts Großbritanniens erneut die deutschen Ministerialbeamten besonders penibel darauf bedacht, dass der rassistische Charakter der Ausschlusskriterien auf keinen Fall offenkundig werden dürfte. So meldete die deutsche Botschaft in London im April 1972, dass man eine „Einwanderungswelle“ von einer Million Briten und Britinnen, „darunter 250.000 farbige“, allein in den kommenden zwei Jahren erwarten würde. Während sich das zuständige Länderreferat im Auswärtigem Amt dieser Einschätzung anschloss, wies die für Europa zuständige Abteilung darauf hin, dass man sich aus „grundsätzlichen Erwägungen (…) insbesondere bezüglich der Hautfarbe nicht dem Verdacht der Vertragsuntreue aussetzen“ wolle.

II.

Anwerbestopp, Remigration, Suspension waren staatliche Steuerungskonzepte, die heute synonym für Narrative eines Rechtsrucks zweckentfremdet werden. Nimmt man den – laut Beschluss des Verwaltungsgerichts Meiningen – rechtens als Faschisten zu bezeichnenden Björn Höcke beim Wort, würde eine Regierung der AfD die Entrechtung von hundertausendend Migrant:innen herbeiführen. Der Faschist Höcke spricht offen und unverfroren von einem „groß angelegten Remigrationsprojekt, bei dem sich eine wohltemperierte Grausamkeit nicht vermeiden“ ließe. Um Migrant:innen vor den „immensen Verstößen gegen ihre Menschenrechte zu bewahren“, so der AfD-Entschließungsantrag im Deutschen Bundestag von 2021, müsse man die relevanten Migrationsrouten nach Europa „wirkungsvoll schließen“ und alle Betroffenen „ausnahmslos abschieben“. Positionen, die es bislang kaum über den rechten Rand hinausgeschafft haben, scheinen sich nun in der bürgerlichen Mitte zu verfestigen. Der erste Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Thorsten Frei, forderte jüngst die Abschaffung des individuellen Asylrechts. Dieses solle durch eine Kontingent-Lösung ersetzt werden. Angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen schlägt Jens Spahn sogar vor, dass man mal darüber nachdenken solle, ob die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention noch zeitgemäß seien. Dass eine solche Forderung die Abschaffung des Art. 16a Grundgesetz, sowie den Austritt aller EU-Staaten aus der EMRK und der Genfer Flüchtlingskonvention erfordern würde, lassen Thomas Frei und Jens Spahn genauso im Opaken wie die Tatsache, dass gerade diese Forderungen bis vor kurzem von nationalradikalen Rechtspopulisten wie etwa der dänischen Volkspartei, den Wahren Finnen, den Schwedendemokraten, der niederländischen Freiheitspartei (PVV) und der FPÖ formuliert wurden. Markus Söder findet, dass wir darüber nachdenken sollten, welche verfassungsrechtlichen Möglichkeiten es geben könnte, um auch Menschen an der Grenze zurückweisen zu können, die ein Grundrecht auf Asyl hätten. Damit nicht genug. Auch ein FDP-Bundestagsabgeordneter hat uns vor kurzem dazu aufgefordert, darüber nachzudenken, Nicht-EU-Ausländerinnen „keine Mitbestimmung in Parteien und anderen Gremien, keine Versammlungsfreiheit“ mehr zu gewähren. Wolfgang Kubicki geht noch einen Schritt weiter und fordert, dass es in Städten keinen Ausländer:innenanteil von mehr als 25 % mehr geben solle. Er hält es für diskutabel, „über sozialrechtliche Mitwirkungs-pflichten darauf hinzuwirken, dass ein zumutbarer Wohnsitz auch angenommen wird“. Die Vorlage dafür lieferte eines der umstrittensten Konzepte Dänemarks, die so genannten „Ghettoplanen“. Es handelt sich um eine Liste, auf der der Staat seit mehreren Jahren erfasst, in welchen Gebieten zu viele Zuwanderer:innen leben. Im vergangenen Jahr hat die Regierung beschlossen, solche Gebiete aktiv umzugestalten; bis 2030 soll es im ganzen Land kein einziges Viertel mehr geben, in dem mehrheitlich Zuwanderer:innen leben. Notfalls sollen die „Ghetto“-Bewohner:innen durch den Entzug der Sozialhilfe dazu gebracht werden, ihre Wohnorte zu verlassen. Aber auch die ÖVP-FPÖ Regierungskoalition von Ex-Kanzler Kurz war Vorreiter dieser „hostile environment policy“. Bei der Reform der Mindestsicherung (die österreichische Version der Sozialhilfe) 2018 gelang es der ÖVP-FPÖ Regierungskoalition, die volle Auszahlung der Grundsicherung an Sprachkenntnisse zu knüpfen sowie an einen Pflichtschulabschluss. Damit beabsichtigt war, die Unterstützung pro Kind ab einer bestimmten Familiengröße dezisiv abzusenken.

Ein konkretes Gesetzgebungsvorhaben wird soeben – heute den 24.11.2023 – in den Bundesrat eingebracht. Es handelt sich um das sogenannte Rückführungsverbesserungs-gesetz. Am 1.12.2023 soll es in erster Lesung im Bundestag beraten werden – gemeinsam mit dem Gesetz zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsgesetzes. Beides zielt auf die Umsetzung der Ankündigung des Bundeskanzlers, nun in großem Stile abschieben zu lassen. Zu diesem Zweck sieht der Gesetzesentwurf weitreichende Eingriffe in die Privatsphäre von Geflüchteten vor sowie die Ausweitung von Abschiebehaft und Ausreisegewahrsam. Auch die Ministerpräsident:innenkonferenz konnte sich im November auf weitereichende migrationspolitische Vorhaben einigen. Die Bundesregierung will nun die Durchführung von Asylverfahren in Drittstaaten prüfen lassen; diese Entscheidung erging allerdings noch vor der Entscheidung des britischen Supreme Courts zum Ruanda-Plan. Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes soll es nun in Form einer Bezahlkarte geben, der Bezug von Bürger:innengeld ist erst nach 3 Jahren statt wie bisher nach 18 Monaten möglich. Was hier ansteht, ist eine restriktive Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes.

III.

Die Opfer des terroristischen Massakers in Israel, diese Massengewalt gegen israelische Bürger:innen ist Gewalt gegen Jüdinnen und Juden, weil sie jüdisch sind, und als solche unmissverständlich antisemitisch. Der Antisemitismus konfrontiert auch die normativen Grundlagen der postmigrantischen Gesellschaft, ihr Vermögen, die Konflikte der Mehrfachzugehörigkeit und Mehrfachdiskriminierung inklusiv zu gestalten. Die aktuellen Konflikte bringen disparate erinnerungspolitisch gestützte Betroffenheiten akut zum Vorschein. Es entstehen Betroffenheiten, die den ethischen Anspruch auf Empathie und Versöhnung mit einer Politik der Feindschaft kompensieren. Die postmigrantische Gesellschaft ist verwundet. Sie ist verwundet, weil jüdisches Leben in Deutschland wieder in Gefahr ist. Es wurden Synagogen angegriffen und Wohnhäuser, in denen jüdische Personen leben, wurden mit einem Davidstern markiert. Die postmigrantische Gesellschaft ist verwundet, wenn auf Berliner Schulhöfen das Zeigen von Aufklebern mit „Free Palestine“ oder das „sichtbare Tragen von einschlägigen Kleidungstücken (z.B. die als Palästinenser-Tuch bekannte Kyfya)“ verboten wird, auf Anweisung der Senatsverwaltung für Bildung. Auf diese Weise wird eine Stigmatisierung von Kindern und ihren Eltern mit palästinensischer oder arabisch-muslimischer Migrationsgeschichte hingenommen; sie werden adressiert als für antisemitische Straftaten bzw. für Antisemitismus besonders anfälliges Kollektiv. Die postmigrantische Gesellschaft ist verwundet, wenn die Grundrechtseinschränkung in Form selektiver Versammlungsverbote und die Androhung einer Rücknahme der deutschen Staatsangehörigkeit normalisiert werden.

Mir scheint, dass vor unseren Augen eine erinnerungspolitische Pädagogik der Grausamkeit entsteht – wenn „Tränen ohne Trauer“ vergossen werden, wenn einer Kontextualisierung von Gewaltverhältnissen der Vorwurf gemacht wird, dass sie Gewaltereignisse relativiere und legitimiere. Eine institutionalisierte Kultur des Verdachts gegenüber dem unpassenden Affekt des oder der anderen sprengt die zarte Naht jeder multidirektionalen Erinnerung; sie separiert die Räume der Trauer, verunmöglicht es, den Schmerz des anderen zu begreifen, hierarchisiert die Opfer und trennt den Kampf gegen Antisemitismus vom Kampf gegen Rassismus. Statt sie zu bekämpfen, stärkt sie die Feinde der postmigrantischen Gesellschaft.

Die Redes als PDF: Die postmigrantische Gesellschaft ist verwundet! – Eröffnungsrede Vassilis Tsianos RfM-Jahrestagung 2023