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Ausschreitungen an Silvester 2022: Zur Diagnose einer gescheiterten Integrationspolitik

In zahlreichen Städten gab es zum Jahreswechsel Angriffe mit Feuerwerkskörpern auf Rettungs- und Sicherheitskräfte. Alleine in Berlin wurden mehr als hundert Menschen deswegen kurzzeitig inhaftiert, die Ermittlungen laufen. Der überwiegende Teil der Verdächtigen ist unter 21 Jahren und männlich. Zwei Drittel sind deutsche Staatsangehörige, so die Polizei in Berlin. Dort fanden die Vorfälle vor allem in dicht besiedelten Räumen statt, in denen der Anteil an Transferempfänger:innen und sozial benachteiligten Personen besonders hoch ist. Nach dem, was bisher bekannt ist, wurden rund 350 Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren eingeleitet.

Auf Grundlage der bisher bekannten Fakten ist eine breitangelegte und gesamtgesellschaftlich ausgerichtete Debatte über den Sinn und Unsinn von Feuerwerk in den Händen von Amateuren, gesellschaftliche Verrohung und die zunehmende Gewaltbereitschaft gegen die staatlichen Institutionen, ihre Vertreterinnen und Vertreter zwingend geboten. Stattdessen wurde unmittelbar nach der Silvesternacht –  zunächst wohl basierend auf Videos aus Social-Media-Beiträgen, später dann auf Aussagen von Polizist:innen, Feuerwehrleuten und Augenzeug:innen – über einen bestimmten Tätertyp gesprochen, dem im rassistischen Duktus die Attribute muslimisch und vermeintlich „nicht-deutsch aussehend“ angeheftet werden.

Welcher Zusammenhang genau zwischen Religion, Haar- oder Hautfarbe und Migrationsgeschichte mit dem Abfeuern von Feuerwerkskörper auf Einsatzfahrzeuge von Feuerwehr und Polizei bestehen soll, verbleibt vage. Eine Erklärung bleiben die Stichwortgeber dieser rassifizieren Debatten schuldig. Stattdessen wird auf eine gescheiterte Integrationspolitik geschlossen, welche mit sicherheitspolitischen Maßnahmen aufgefangen werden sollen. Das fordert nicht einmal die Polizei selbst.

Vier Aspekte sind aber wichtig, denn daraus lässt sich präventiv für den nächsten Jahreswechsel und darüber vorgehen:

Erstens stellt sich die Frage, wie die Verbindung zwischen jungen Männern und gescheiterter Integration so schnell hat vonstattengehen können, zumal hier bundesweit ähnliche soziale Dynamiken zu beobachten sind. Das dieser Zusammenhang immer noch vielfach verfängt, sagt viel über Vorurteilsmuster in unserer Gesellschaft aus und weist auf ein gesellschaftliches Problem hin, dem wir uns stellen müssen. Denn vermeintlich verweigerte Integration betrifft nicht nur eine Gruppe, sondern die gesamte Gesellschaft. Als Einwanderungsland müssen wir lernen jedem eine faire Chance zu geben, und offenbar ist das nicht gelungen, was nicht zuletzt an verbreitetem Rassismus liegt. Darüber müssen wir reden.

Zweitens scheint es eine Verrohung der Gesellschaft zu geben, so dass Sicherheits- und Rettungskräfte attackiert werden. Das kennen wir von rechtsextremen Übergriffen, beispielsweise, wenn brennende Unterkünfte für Geflüchtete gelöscht werden sollen, von Schaulustigen bei Unfällen und aus Demonstrationen gegen die Corona-Pandemiemaßnahmen, auf denen Sicherheitskräfte und Journalist:innen angegriffen wurden.

Offenbar geht mit dem Dienst an der Gesellschaft kein besonderer Respekt in Teilen der Gesellschaft mehr einher. Auch das betrifft uns alle. Die Besonderheiten und besonderen Leistungen dieser entsprechenden Berufsgruppen sind vielen gar nicht bekannt, und hier kann angesetzt werden. Aufklärung und Anerkennung sind hier erste Schritte und das bedeutet aber auch, dass Rettungs- und Sicherheitskräfte den Querschnitt der Gesellschaft abbilden sollten. Hier besteht ein anhaltender Nachholbedarf, dem nur zum Teil begegnet wird.

Drittens bleibt schlichtweg offen, welche Integrationspolitik eigentlich gescheitert sein soll. Denn seit Jahren erleben wir eine Konfusion an integrationspolitischen Maßnahmen, die letztendlich von den Kommunen und vereinzelt auch von den Ländern konzipiert werden. Der Bund wird hier seiner Rolle nicht gerecht, denn ein eindeutig zuständiges Bundesministerium lässt noch auf sich warten.

In der Praxis führt das beispielsweise dazu, dass das Familienministerium Mittel zu Integrationsförderung verteilt, das Innenministerium aber für die Integrationskurse und das Aufenthaltsrecht zuständig ist. Parallel fordern unterschiedliche Ressorts, wie das Gesundheits- oder Wirtschaftsministerium, eine stärke Fachkräftezuwanderung. Die mahnende und versachlichende Stimme der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, geht so schnell unter. Eine deutschlandweite kohärente Integrationspolitik fehlt demnach.

Viertens ist das räumliche Muster der Übergriffe bemerkenswert, soweit wir es aus der Berichterstattung kennen: Der überwiegende Teil der Berichte bezieht sich auf wenige Stadtteile. In den Quartieren, die die durchaus auch die Integrationsmotoren unserer Städte sind, haben sich offenbar auch Lebenswelten entwickelt, die von mangelndem Vertrauen geprägt sind. Das betrifft Schulen, kommunale Mitarbeiter:innen, oder solche von Verkehrsbetrieben ebenso wie Rettungs- und Sicherheitskräfte. Die Frage wie es soweit kommen konnte, ist nicht leicht zu beantworten, ebenso wenig, wie es sich wieder beheben lässt. Dass Lebenschancen aber auch innerhalb einer Stadt räumlich ungleich verteilt sind, ist bekannt.

Ein erster Schritt wäre, dies anzuerkennen, und ernsthaft nach Lösungen zu suchen. Dafür braucht es Dialog und die Bereitschaft neue Wege auszuprobieren, wie etwa den nachhaltigen Einsatz von multiprofessionellen Teams in Kommunen, und den Willen, dazu finanzielle Mittel in die Hand zu nehmen.

Das Ziel ist klar: solche Vorfälle sollen zum nächsten Jahreswechsel nicht wieder passieren, was hoffentlich auch für eine solche Debatte gilt.

Mit freundlichen Grüßen,

der Vorstand des Rats für Migration

 

Kontakt

Rat für Migration e.V.

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