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„Deutsche Lebensverhältnisse“?

Zu den geplanten Verschärfungen im Staatsangehörigkeitsgesetz

Autor*innen: Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu und Prof. Dr. Paul Mecheril

27.06.2019 | Am Donnerstag sollen mehrere Änderungen im Staatsangehörigkeitsgesetz im Deutschen Bundestag verabschiedet werden. Die Regierungsfraktionen haben dazu einen Antrag eingebracht, in dem „die sichere Feststellung der Identität und die Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse, insbesondere die Beachtung des Verbots der Viel- und Mehrehe“ gefordert wird.

Das Staatsangehörigkeitsrecht steht also erneut im Mittelpunkt der politischen Debatten um Migration und Integration. Es ist dabei aufschlussreich, wie die Politik den Übergang von Fremdheit zu Mitgliedschaft gestaltet. An den aufgestellten Forderungen an neue Mitglieder lässt sich erkennen, wie sich diese Gemeinschaft selbst versteht und wie sie sich imaginiert.

Der Änderungsantrag der Regierungsfraktionen im Bundestag zeugt von einem massiven Misstrauen gegenüber denen, die eine Staatsbürgerschaft erlangen wollen. Dem entgegen steht das Vertrauen, das hier indirekt und unter der Hand den rechtmäßigen Deutschen Staatsangehörigen entgegengebracht wird.

Wir vertrauen einander in dem Maße wie wir den Anderen, den Fremden, den Noch-Nicht-Mitgliedern misstrauen. Je mehr wir ihnen misstrauen, desto mehr vertrauen wir uns. Und je brüchiger dieses Vertrauen ist, desto sinnvoller scheint es, Misstrauen gegen die Anderen zu mobilisieren. Misstrauen vergemeinschaftet. Denn rechtmäßige Deutsche, das unterstellt der Änderungsantrag, gefährden nicht die Sicherheit des Staates. Rechtmäßige Deutsche sind monogam. Rechtmäßige Deutsche ordnen sich selbstverständlich in deutsche Lebensverhältnisse ein.

Der Ausdruck „deutsche Lebensverhältnisse“ verweist auf einen nicht nur vagen, sondern geradezu phantasmatischen Wert. Sich diesen Lebensverhältnissen ein- und unterzuordnen wird dabei zu einer doppelten Beschwörungsformel. Beschworen und phantasiert wird die Einheit der Lebensverhältnisse einer aus über 80 Millionen Individuen bestehenden Gruppe. Die Lebenssituation der Bestverdienenden scheint mit einem Schlag der Lebenssituation der sozial Abgehängten zu ähneln. Und diese scheinen mit den Lebensverhältnissen in rechtsextremen, kapitalismuskritischen oder konsumorientierten Milieus verwandt zu sein.

Zugleich wird die moralische und zivilisatorische Überlegenheit dieser Einheit suggeriert. Alles, was nicht zu ihr passt, etwa die Alltäglichkeit von institutioneller, struktureller und persönlich-interaktiver Gewalt, wird negiert und damit die Vorstellung eines guten „Wir“ ermöglicht. So kann die Integrationsfähigkeit der anderen grundsätzlich infrage gestellt werden, während rechtsterroristische Akte, die auf die Zerstörung des pluralistisch-demokratischen Staates zielen, keine Fragen nach der Integrationsfähigkeit der Täter*innen nach sich ziehen.

Weiterhin schlagen die Regierungsfraktionen vor, den Behörden bis zu zehn Jahre eine Rücknahme der Einbürgerung zu ermöglichen, wenn im Einbürgerungsverfahren fehlerhafte Angaben gemacht wurden.

Um die gute Qualität der beschworenen Gemeinschaft noch zu intensivieren, wird den Neu-Staatsbürger*innen also eine auf zehn Jahre ausgedehnte Probezeit zugewiesen. So erhaben und kostbar ist die Mitgliedschaft in dieser Gruppe, dass Neu-Mitglieder diese nur mit Widerrufoption erhalten. Ihr Status ist prekär, denn sie müssen sich unserer noch würdig erweisen. Und je erhabener unser Status, desto prekärer der ihre.

Die aufgebrachte Migrationspolitik der etablierten Parteien stellt so die Anderen unter Generalverdacht und überhöht damit den moralischen Status der Nicht-Anderen. Das ist ein Rückfall in ein politisches Ordnungsverständnis, das einer pluralistischen Demokratie unwürdig ist.

Der Kommentar wurde in gekürzter Fassung am 27.06.2019 in der taz veröffentlicht.

Autor*innenprofil: Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu ist Professorin für Interkulturelle Bildung an der Universität Bremen und Vorsitzende im Rat für Migration. Prof. Dr. Paul Mecheril ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Migration an der Universität Bielefeld und ebenfalls Vorstandsmitglied im Rat für Migration.