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Stellungnahme zum Sächsischen Integrations- und Teilhabegesetzes (SITG): Die Grundlagen für mehr Teilhabe durch mehr Teilhabe schaffen

Pressemitteilung als PDF – 20. Oktober 2023

Nach einem letzten Verbändegespräch am 18. Oktober geht der Gesetzesentwurf für ein Sächsisches Integrations- und Teilhabegesetz (SITG) nun zur Endabstimmung in den Sächsischen Landtag. Der aktuelle Entwurf stellt einen ernstzunehmenden Versuch dar, Sachsen „migrationsgesellschaftlich“ zu denken und damit die faktische Realität einer sich pluralisierenden Gesellschaft anzuerkennen. Integration und Teilhabe werden entsprechend als gesellschaftliche Querschnittsaufgabe anerkannt. Diese Anerkennung beruht in erster Linie auf der Ausgestaltung des SITG als Artikelgesetz: Zukünftig soll es in Gesetzgebungsverfahren auch in anderen Rechtsbereichen berücksichtigt werden und damit erst Integration und Teilhabe als Querschnittsaufgabe gesamtgesellschaftlich verankern. Dies gilt insbesondere in Hinblick auf ein künftiges sächsisches Antidiskriminierungsgesetz, da Teilhabe im Umkehrschluss auf Antidiskriminierung beruht.

Um entsprechende Querschnittsaufgaben im Detail zu ermitteln, wurde unter dem Motto „Teilhabe schafft Teilnahme“ bereits im Vorfeld des Entwurfs ein breiter Beteiligungsprozess der Fachöffentlichkeit initiiert. So entstand aus der Perspektive von Praktiker:innen und Betroffenenverbänden eine umfangreiche Sammlung von Bedarfen und Forderungen im Bereich Migration in Sachsen. Die Veröffentlichung dieser Sammlung durch das federführende Sächsische Ministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt steht allerdings noch aus.

Sachsen wäre damit das erste ostdeutsche Bundesland mit einem solchen Gesetz. Dies ist insbesondere vor den Landtagswahlen 2024 von größter Dringlichkeit, da eine relative Mehrheit der AfD im Sächsischen Landtag zu erwarten ist.

Im Detail wurden unter anderen folgende erste Schritte einer rechtlichen Absicherung von Integration und Teilhabe in Sachsen erreicht, für die es keiner expliziten Haushaltsbeschlüsse mehr bedürfen würde:

  • eine teilweise erweiterte Institutionalisierung von Integrations- und Teilhabemöglichkeiten, in deren rechtlich geschützten Rahmen weitere Teilhabemöglichkeiten verhandelt werden könnten. Mehr Teilhabe schafft potenziell mehr Teilhabe
  • Die Etablierung und die finanzielle Förderung von Dachverbänden migrantischer Selbstorganisationen
  • Eine Förderung der migrationsgesellschaftlichen Kompetenzentwicklung der öffentlichen Einrichtungen Sachsens
  • Weitreichende Berichtspflichten auf kommunaler und Landesebene
  • Eine landesweite Regelungsmöglichkeit kommunaler Integrations- und Teilhabekonzepte und entsprechend eine weitere Förderung der sozialen Arbeit mit Geflüchteten und Migrant:innen
  • die weitere Förderung von Sprache und Bildung, Arbeit und Ausbildung

Nicht erreicht werden konnte unter Anderem:

  • Eine notwendige Problematisierung des gesamtgesellschaftlichen Zustands einer in großen Teilen von verschiedenen Formen des Rassismus, Antisemitismus und rechtsradikalen Kulturalismus betroffenen Gesellschaft. Dieser Zustand wäre als solcher explizit zu benennen
  • Eine tatsächliche Gleichberechtigung zu Integration und Teilhabe auszuhandeln, die auch Menschen mit ungesichertem Aufenthaltsstaus und damit alle Menschen mit Einwanderungsgeschichte einschließt. Rechtlich gesehen stehen weder Asyl- noch Aufenthaltsgesetzgebung gegen die Integration und Teilhabe von Menschen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus. Sie erhalten jedoch im Rahmen der aktuellen Gesetzesvorlage kaum entsprechende Möglichkeiten. Möglichkeiten der Teilhabe leiten sich ab aus den konkreten Bedingungen des Ankommens und der Aufnahme von geflüchteten Menschen bis zur Mitsprache im Diskurs um Flucht und Asyl in Deutschland. Sie sind unabdingbar, um die Menschenwürde der Einzelnen zu wahren, indem gesellschaftliche Teilhabe von Anfang an ermöglicht wird. Dies ist Stand der Forschung und menschenrechtliches Gebot
  • Eine insgesamte Ausweitung der Finanzierung, was die Umsetzung vieler avisierter Maßnahmen grundlegend in Frage stellt
  • Eine umfassende Strukturförderung entgegen der prekären und kurzfristigen Projektförderung
  • Eine gesetzliche Verpflichtung der Kommunen, die sie betreffenden und oben genannten Integrations- und Teilhabemaßnahmen überhaupt anzustreben. Dies ist besonders zu bedauern, da somit insbesondere die Existenz der wichtigsten Institutionen (Beauftragte und Beiräte auf kommunaler Ebene), die auf konkrete Teilhabemöglichkeiten und deren Ausweitung abzielen, der Lokalpolitik überlassen bleiben
  • Eine Beteiligung von Migrant:innenselbstorganisationen am avisierten Landesbeirat für Integration und Teilhabe wurde übersehen
  • Die fehlende Berücksichtigung intersektionaler Perspektiven wie u.a. die besondere Schutzbedürftigkeit mehrfachdiskriminierter Personengruppen. Dadurch werden gleichberechtige Teilhabechancen signifikanter Bevölkerungsgruppen beschnitten
  • Eine gesetzliche Verpflichtung zur Wahrung des Subsidiaritätsprinzips in der Sozialen Arbeit mit Menschen mit und ohne einen gesicherten Aufenthaltsstatus zugunsten freier Trägerschaft. Dies ist unabdingbar zur Sicherung der Unabhängigkeit der Sozialen Arbeit, entgegen der Übernahme entsprechender Aufgaben durch staatliche Einrichtungen, die in unlösbare Interessenkonflikte zwischen Sozialarbeiter:innen und Adressat:innen führen
  • Flächendeckende Fachstandards in der Sozialen Arbeit
  • Die explizite Förderung kritischer politischer Bildung und transkulturell ausgerichteter Strukturen
  • Eine Streichung einseitiger Assimilationserwartungen gegenüber den Betroffenenkollektiven, die dem Gedanken der wechselseitigen Integration grundlegend zuwiderlaufen

Im Sinne des letzten Punktes bleibt festzuhalten, dass Integration im Sinne soziokulturell wechselseitiger Öffnungsprozesse, wie sie die Gesetzesvorlage als übergreifende Zielvorgabe anstrebt, nicht gesetzlich geregelt, sondern nur gesetzlich verpflichtend gefördert werden kann: Die Mehrheitsgesellschaft kann selbstverständlich nicht zur soziokulturellen Offenheit gezwungen werden. Daher müssen Antidiskriminierung und ein Recht auf Teilhabe konkret gesetzlich geregelt werden, um zunächst einmal Rahmenbedingungen für demokratische Aushandlungsprozesse zu den Bedingungen wechselseitiger soziokultureller Öffnung zu schaffen – etwa in Form von Antidiskriminierungs-, Integrations- und Teilhabegesetzen. In einer Demokratie bedingen Integration, Antidiskriminierung und Teilhabe einander somit grundlegend.

 

Kontakte für Presseanfragen

 Dr. Felix Hoffmann

TU-Chemnitz

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