50 Jahre Anwerbestopp: Vom Eigensinn der Migration

Jahrestagung des Rats für Migration 2023

Der Anwerbestopp steht für einen fehlgeschlagenen migrationspolitischen Steuerungsansatz, bei dem Deutschland der Hauptakteur war und der selten mit Fragen der race und der Kolonialität zusammen diskutiert wird. Das beabsichtigte „Ende der Gastarbeit“ fand aber im Kontext der Dekolonisierung und der europäischen Integration statt. Gerade die Erfindung des „Gastarbeiterstatus“ bot Westdeutschland jedoch die Möglichkeit, Kategorien des Ausschlusses zu erfinden, ohne auf die Semantik von race zurückzugreifen. Insgesamt hatte der 1973 verhängte Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte einen anderen Effekt als von den Behörden erwartet. Zwar sank die Zahl der ausländischen Erwerbstätigen in den ersten zwei Jahren danach um eine halbe Million, gleichzeitig nahm jedoch die ausländische Wohnbevölkerung nicht im selben Umfang ab. Vielmehr erhöhte sie sich in derselben Zeit und lag 1980 insgesamt bereits eine Million höher als 1972. Der Grund lag im Wesentlichen in dem Wunsch der betroffenen Arbeiter*innen, ihre Familie an ihren Arbeitsort nachzuholen, was ihnen jahrelang verboten wurde, und schließlich nur durch eine Entscheidung des Europäische Gerichtshofs gelang. Daran lässt sich die Tendenz zum Familiennachzug bzw. zur Entscheidung, in Deutschland Kinder zur Welt zu bringen ablesen. 

Kurz gesagt die Autonomie der Migration unterlief das Programm der Rückkehrpolitik mittels einer kollektiven Strategie der Sesshaftwerdung. Insbesondere traf das auf jene Gruppen von Migranten zu, für die Pendelmigration keine Option war, weil sie keine Freizügigkeit im Rahmen der EWG-Vereinbarungen beanspruchen konnten. Dies galt auch für Marokkaner*innen, Jugoslaw*innen, Spanier*innen und Portugies*innen, also aus Ländern, die damals noch nicht in der EU waren. Besonders benachteiligt in Bezug auf die Option der Pendelmigration waren Arbeitsmigranten aus der Türkei. Zudem war für viele von ihnen die Rückkehr in die Türkei auch deshalb unrealistisch, weil sie dort ihr Eigentum verkauft hatten, um nach Deutschland zu gehen. Dazu kamen fehlende Perspektiven auf dem türkischen Arbeitsmarkt. Dieser Aspekt war in der bisherigen Forschungslage weitgehend unberücksichtigt. Erst neuere Studien, die auf Basis zahlreicher Oral-History-Interviews die Widerstandsstrategien türkischer ArbeitsmigrantInnen für die Forschung vernehmbar gemacht haben, hebt die lebensgeschichtliche Bedeutung der verstellten Rückkehroptionen deutlich hervor.

Auf der Jahrestagung 2023 des Rats für Migration wird dieser Eigensinn der Migration im historischen und gegenwärtigen Kontext diskutiert. Es werden gängige Narrative zum Anwerbestopp hinterfragt und bisher wenig beachtete Perspektiven eröffnet. Es werden Geschlechterverhältnisse in der Arbeitsmigration nach West- und Ostdeutschland seit den 1970er Jahren und die Zusammenhänge der Anwerbepolitiken beider Staaten thematisiert. Neben der überwiegend männlichen rezipierten Arbeitsmigration wird auch das Narrativ des Anwerbestopps als Zäsur problematisiert und auf Kontinuitäten auch nach 1973 hingewiesen. So fanden auch 1973 im kleineren Rahmen und zumeist jenseits offizieller Anwerbepolitiken Krankenschwestern(schülerinnen) aus asiatischen Ländern (Südkorea, Philippinen, Indien) Arbeit in der BRD. Die Fixierung auf die Gastarbeit als Vorgeschichte der Einwanderungsgesellschaft Deutschland soll auch erinnerungskulturell aufgebrochen werden, indem zum einen die Fluidität der Zugangskategorien, und zum anderen und insbesondere die erinnerungskulturelle Verdrängung von Geflüchteten als Teile dieser Geschichte thematisiert wird. Außerdem werden das Gastarbeitersystem und die aktuelle Fachkräftestrategie der Bundesrepublik einem interdisziplinären vergleich unterzogen.

Am zweiten Tag wird ein zweites das 25-jährige Gründungsjubiläum des RfM zum Anlass genommen, um auf die letzten Jahre der Wissenschaftskommunikation zurückzublicken und gemeinsam mit Migrationsforschungsinstituten BIM, IMIS & DeZIM perspektiven zu entwickeln. Es werden einige zentrale Aspekte der Migrationsforschung und ihrer Beziehung zu Wissenschaft und Politik diskutiert. Dabei wird untersucht, ob es ein Dilemma des Erfolgs gibt, das sich aus der zunehmenden gesellschaftlichen Anerkennung und Relevanz der Migrationsforschung ergibt. Außerdem wird analysiert, welche Akteure und Lager sich in diesem Feld herausgebildet haben und wie sie miteinander interagieren. Schließlich wird gefragt, ob die Einwanderungsgesellschaft noch ein kontroverses Thema ist oder ob es eine Tendenz zur Inkorporierung gibt. Dabei werden auch mögliche Tabus und Komplikationen thematisiert, die die Migrationsforschung weiterhin herausfordern.

Freitag, 24. November 2023 / 50 Jahre Anwerbestopp

Veranstaltungsort: TU Berlin, Hauptgebäude, Straße des 17. Juni 135

Samstag, 25. November 2023​ / 25 Jahre Rat für Migration

Veranstaltungsort: HU Berlin, Luisenstraße 56

Bitte füllen Sie das Anmeldeformular aus, um sich für die Jahrestagung zu registrieren.

Anmeldeschluss ist der 04. November 2023.

 

 

Datum und Zeit

24. – 25. November 2023

Einlass ab 09:00 Uhr

 

Veranstaltungsorte

1. Tag: TU Berlin

2. Tag:

Humboldt-Universität zu Berlin

Luisenstraße 56, 10115 Berlin